#Roman

Über Raben

Paulus Hochgatterer

// Rezension von Sabine Dengscherz

An einem Montag Ende Jänner, in der Woche vor den Semesterferien, geht er in die Berge. Wandern, Klettern, Biwakieren. Ausgerüstet mit Vorräten, Seil, Pickel und ähnlichen Gerätschaften sowie einer umfangreichen Hausapotheke für alle Fälle und seine sämtlichen Wehwehchen. Außerdem mit einem Präzisionsgewehr, dessen Zielfernrohr sich auf wirkliche oder eingebildete Verfolger richtet. Die aber dann doch nicht auftauchen, zumindest nicht in diesem Roman, von dem man am Ende der Lektüre meinen könnte, er sei nur der Auftakt zu einer Geschichte, einem Krimi, der sich erst im Kopf entfalten kann.

Paulus Hochgatterer lässt uns in seinem letzten Roman Über Raben über die Beweggründe seines Protagonisten reichlich im Dunkeln. Wir wissen lediglich, dass er, schulschwänzender Gymnasiallehrer, geschieden, 1 Sohn, sich ins Hochgebirge absentiert und glaubt auf der Hut sein zu müssen vor seinen Kollegen, jenen zumindest, die ihn in der unwirtlichen Felswand aufspüren könnten. Warum sie das wollen sollten, erfahren wir nicht. Dafür umso mehr von früheren Bergwander- und Klettererlebnissen, Gebirgssex mit seiner (nunmehr) Exfrau, rheumatischen Knieschmerzen und Techniken, die Hürden der Natur zu bezwingen.

Und eigentlich ist der Protagonist auch gar nicht der Protagonist. Denn jedes Kapitel (bis auf das letzte) wird von einem zweiten, meist wesentlich längeren Abschnitt begleitet, in dem eine knapp Dreizehnjährige ihren Schulalltag beschreibt, in der Woche vor den Semesterferien, Montag bis Freitag, eine gewöhnliche Schul- und Arbeitswoche eben. Und diese Ich-Erzählerin erzählt uns die eigentliche Handlung des Romans. Wie sie ihre Englisch-, Turn-, Werk-, Biologie-, Geographie-, Biologie- oder sonstigen Stunden absitzt oder auch nicht, wie sie sich in spontaner Begeisterung für die englische Sprache den großen Pons kauft – den sie sich nur leisten kann, weil sie die Bankomatkarte einer älteren behinderten Nachbarin geklaut hat, um die sie sich ansonsten fast rührend kümmert – wie ihr die Deutschstunden abgehen, und sie weiß gar nicht recht warum.

Der Deutschlehrer sitzt, liegt und klettert einstweilen in den Bergen und erinnert sich zwischen den wehmütigen Gedanken an seine Exfrau auch immer wieder an „das Mädchen“, das ihn irritierte, denn wenn es „an der Tafel stand und Sätze analysierte, wirkte es zufrieden, beinahe glücklich. Die anderen verstanden das nicht.“ Sätze zu analysieren ist ja auch im Allgemeinen nicht unbedingt die Leidenschaft einer Teenagerin. Und doch tut sie es in „ihren“ Textpassagen auch immer wieder, Satzanalyse und neue Englisch-Vokabeln aus dem Pons vertreiben ihr die langweiligeren Schulstunden im Wiener Schottengymnasium, zusammen mit der Frage „Wie stirbt ein …“ Postamtsleiter, ein Trafikant, zwei Reifenhändler, ein Ministsterialbeamter oder auch die freche Regina Albrecht aus der Klasse.

Nicht dass sie jene tatsächlich ins Jenseits wünschen würde, es ist reines Gedankenspiel – das schlussendlich auch zu der Lesart verführen könnte, die letztendlich aussichtslose Gipfelstürmerei des Lehrers als Phantasie der Schülerin zu verstehen: wie stirbt ein Deutschlehrer? Oder wie könnte er sich in eine derart aussichtslose Lage bringen, dass ihm nichts mehr bleibt als der Tod?

Der Kinderpsychiater Hochgatterer versteht es, die grausamen Gymnasialzeiten beginnender Pubertät so lebendig darzustellen, dass man sich fast selbst wieder in der Schulbank sehen (und vor allem fühlen) kann, mit allen Erheiterungen und Beklemmungen, die dazugehören – und auch mit dem wohl für dieses Alter charakterischen Verschwimmen von Vorstellung und Realität. Das macht den Roman wohl auch so kryptisch. Mit gewohnten germanistischen Interpretationsmethoden ist ihm schwer beizukommen. Es ist eine Welt der Irrationalität und des Überlebenskampfes gleichermaßen, die sich hier auftut, und der Überlebenskampf spielt sich im Gebirge ab wie in der Schule – nur der Starke kann sich behaupten.

Was dem Deutschlehrer in der Felswand geschieht, dass er jenseits der Zivilisation zurechtkommen muss in einem Umfeld, das sich keinen Deut um seine Befindlichkeit schert, das geschieht den Schülern in der Klasse, die Leistung zählt, fachlich und sozial, und es gilt die Schwierigkeit zu meistern, einen Mittelweg zwischen beiden zu finden, um weder als Streber noch als Idiot zu gelten. Und was für den Lehrer der Rabe, dem er in den Bergen begegnet (anfreunden wäre zuviel gesagt), das ist für die Schülerin der Kater zu Hause, den sie mit Katzenfutter und Hundeflocken füttert wie der Lehrer den Raben mit seinen übriggebliebenen Ravioli, mit den Tieren kann man reden, aber verstehen werden sie einen dann doch nicht.

Und die Menschen auch nicht immer. Das Unverstandensein als Zentralerfahrung jugendlichen Daseins – wer kennt das nicht? Man kann es zelebrieren mit Steppenwolf-Lektüre oder auszugleichen versuchen im Gespräch mit Gleichgesinnten – was unsere Protagonistin auch tut mit ihrer besten Freundin, die sie liebt für ihre kühle, fast wissenschaftliche Art, die sich dann doch wieder in Lachanfällen entladen kann, aber ganz kann sie sich und ihr Innerstes nicht preisgeben.

Das scheint der Lehrer zu spüren, wenn er sich in Jännerkälte und Schnee immer wieder an seine Schülerin erinnert. Aus der er selbst offenbar nicht ganz schlau wird. Die ihm in ihren Aufsätzen immer wieder zu denken gegeben hat. Und in ihrer Art an Sprache und Inhalte heranzugehen. Extremerfahrungen suchen sie beide. Das Spiel mit dem Tod. In Gedanken oder in der Gefahr. Und daneben geht das Leben weiter. Montag bis Freitag, der Trott wird nicht durchbrochen, der Lehrer, wir alle sind ersetzbar. Und vielleicht ist es auch nur Wunschdenken, dass ihn irgendjemand verfolgen kommen, suchen kommen möge.

Die Schülerin – die ebenso namenlos bleibt wie der Lehrer – erscheint gleichermaßen ohne familiären Rückhalt. Zu Hause treffen wir sie immer nur alleine an, sie wirkt sehr selbstständig und für ihr Alter ein wenig frühreif, geht einkaufen, versorgt sich selbst, Katze und gelähmte Nachbarin, deren Konto ihr das Luxus-Leben sichert, und verwandelt ihre Wohnung allmählich mittels diverser Chemikalien in ein Mittelding aus Versuchsstation und Schwitters-mäßigem Gesamtkunstwerk. Wo sind die Eltern? Wir wissen es nicht.

So wie so vieles andere auch nicht, was den Roman am Ende selbst zu einer Versuchsstation werden lässt. Trotz Detailreichtums in etlichen Belangen lässt Hochgatterer doch das Handlungsspezifische offen. Weder erfahren wir von der Schülerin Näheres, das ihre allgemeine Lebenssitutation auf annehmbar realistisch/bürgerliche Weise erläutern könnte, noch erfahren wir, was den Lehrer in die Berge getrieben hat. Und eben die Spekulationen, die der Leser dabei anstellt, gehören mit zum Leseerlebnis. Das macht Über Raben trotz an sich traditioneller Sprachverwendung und mehr oder weniger konventioneller Erzählhaltung zum modernen Roman.

Paulus Hochgatterer Über Raben
Roman.
Wien, Frankfurt am Main: Deuticke, 2002.
235 S.; geb.
ISBN 3-216-30629-1.

Rezension vom 04.05.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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