Übertreibungen in Richtung Wahrheit ist eine Auswahl seiner Stenogramme, Glossen, Aphorismen, die von Ludger Lütkehaus, einem ausgewiesenen Kenner des Werks, aus fünfzehn Einzelbänden gesammelt wurden. Sie zeigen zuallererst, dass Anders‘ frühe Diagnose von der Antiquiertheit des Menschen nicht antiquiert geworden ist. Eine provozierende Lektüre nicht nur für die Anhänger von Francis Fukuyamas Thesen vom glücklichen Ende der Geschichte und nicht nur für jene, die 1989 das Ende der atomaren Bedrohung feierten. Aber Lütkehaus reduziert Anders nicht auf die Atomphilosophie und auf das Etikett unserer „atomaren Kassandra“: Er lässt in seinen zehn Kapiteln auch den Kunsttheoretiker, den Philosophen der Liebe oder den Religionsketzer zu Wort kommen, in dem doppelten Ziel, „alte Anders-Leser zu erinnern, neue Anders-Leser zu gewinnen“.
Auch der Wiener Philosophiedozent Konrad Paul Liessmann hat sich seit vielen Jahren mit Anders‘ Werk auseinandergesetzt und nun eine Monographie vorgelegt, die die Aktualität des Werks betont und sich dessen Heterogenität öffnet. Anders‘ These vom „prometheischen Gefälle“ zwischen dem, was Menschen herstellen und ausstellen, und dem, was sie vorstellen und fühlen können, klingt eindringlicher denn je, seine frühe Analyse des Fernsehens hat an Erklärungskraft gewonnen, und dasselbe gilt für seine Kritik des religiösen Fundamentalismus und für seine Überlegungen zum Verhältnis von Moral und Technik.
Es kann uns nicht erfreuen, aber alles spricht dafür, dass wir Günther Anders als den klarsichtigsten Kulturphilosophen unseres Zeitalters anerkennen müssen. „Auch die Ketzer landen in der Kirchengeschichte“, schreibt Anders – wie wird ihr Autor heißen?