Kein Wunder also, daß sich Kafka selbst zeitlebens intensiv mit der Bibel auseinandersetzte, und zwar sowohl mit dem Alten als auch mit dem Neuen Testament. Und ebensowenig überraschend ist es, daß es von Seiten der Literaturwissenschaft unzählige Interpretationsversuche dazu gibt, welche Bedeutung Judentum, Christentum, biblische Texte etc. auf das Werk des Prager Dichters hatten. Bereits 1991 sollen es rund 16000 Veröffentlichungen zum Werk Kafkas gegeben haben – man kann sich also vorstellen, wieviel Forschungsliteratur allein zum vorgegeben Thema zehn Jahre später zu sichten wäre.
Die vorliegende Arbeit von Bertram Rohde, zugleich Dissertation an der Universität Hamburg, hat sich zum Ziel gesetzt, Einflüsse von Kafkas Bibellektüre (und Lektüre einiger für Kafka besonders wichtiger Texte zur Bibel) auf sein Werk kenntlich zu machen, also etwa bestimmte Motive und deren Entwicklung oder strukturelle Ähnlichkeiten von Texten zu untersuchen (die bisherige wissenschaftliche Forschung bezieht Rohde dabei in einer quantitativ gemäßigten Auswahl mit ein, der Leser erhält also auch einen brauchbaren Überblick über den bisherigen Stand der Wissenschaft). Und dieses Vorhaben erweist sich als durchaus fruchtbar: Der Wissenschaftler zeigt an etlichen Beispielen, daß Kafkas Bibellektüre unmittelbare Auswirkungen auf zentrale Texte des Werkes hatte, allen voran auf den Roman „Der Verschollene“ (auch bekannt als „Amerika“). Dort arbeitet Rohde etwa die Ähnlichkeiten des Weltgerichts bei Matthäus und dem „Theater von Oklahoma“ heraus. Ist es im Bibeltext der Weltrichter, der die Menschen vor sich versammelt, so spielt bei Kafka ein Personalchef die Rolle des großen Zampanos. Auch in der ersten Kanzlei, die der Protagonist Karl betritt, wird ein Bezug zur Bibel hergestellt, und zwar zum Weltgericht in der Offenbarung des Johannes. Dort heißt es: „und Bücher wurden aufgethan, und ein ander Buch ward aufgethan, welches ist des Lebens“ (S.71). Kafkas Szene in der „Kanzlei der Ingenieure“ (S.72): „Als Karl grüßend vor sie hintrat, legten sie sofort die Verzeichnisse fort und nahmen andere große Bücher vor, die sie aufschlugen“. Rohdes Beispiele für solche Ähnlichkeiten ließen sich beliebig fortsetzen.
Der Schritt zur Interpretation dieser Textstellen ist freilich ein schwieriger. Das deutet Rohde an, indem er von „wenigstens drei Lesarten“ (S.75) spricht, die sich anbieten. Ist es eine Absage an die Theologie überhaupt? Oder eine Parodie auf die christliche Religion? Oder womöglich gar ein „verhülltes Bekenntnis zum Glauben seiner Väter“ (S.75), wie Wolfgang Jahn in seinem 1965 erschienen Buch über den „Verschollenen“ mutmaßte? Bertram Rohde widersteht der Versuchung, die Fundstücke seiner vergleichenden Lektüre in ein interpretatorisches Korsett zu zwingen. Der Leser ist also selbst gefordert, Schlüsse zu ziehen, er mag dem Wissenschaftler in seinen behutsamen Ansätzen zustimmen oder ihm widersprechen: Der Blick auf Kafkas Texte wird in jedem Fall geschärft. Und das ist ja überaus positiv.