#Sachbuch

...und das soll Dichtung sein

Andreas Hapkemeyer

// Rezension von Kurt Bartsch

Die unter dem zweideutigen Titel … und das soll Dichtung sein – eine Frage oder eine Aufforderung? – vorgelegten „Untersuchungen“ sind keine monografische Studie, basieren vielmehr auf Publikationen, die der (in Innsbruck promovierte und habilitierte) Literaturwissenschaftler und mehrere Jahre in leitender Funktion am Museion, dem Museum für moderne und zeitgenössische Kunst in Bozen, tätige Andreas Hapkemeyer schon früher vorgelegt hat (u. a. eine Arbeit über Sprachliche Strukturen in der Gegenwartskunst, 2004, mehrere Studien zu Ingeborg Bachmann und diverse Katalogbeiträge zu Ausstellungen am Museion).

Alle kreisen allerdings – und das nimmt den Ausführungen die auf den ersten Blick erscheinende Willkürlichkeit – thematisch um den Gegensatz von linearer und visueller, allgemein experimenteller Poesie sowie um Grenzüberschreitungen zwischen Literatur und bildender Kunst. Das leitende Interesse gilt den „Impulse[n] für eine neue Sicht von Dichtung“, die „aus der Kunst kommen“ und vice versa (S. 12). Den Bogen spannt Hapkemeyer dabei von den späten 1950er-Jahren bis ins erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends. Die Materialbasis seiner Untersuchungen bietet ihm überwiegend die rund 2500 Objekte umfassende Spezialsammlung grenzgängerischer Kunst im genannten Bozener Museum.

In einem ersten Kapitel konfrontiert Hapkemeyer, nicht unoriginell, Ingeborg Bachmanns Poesieverständnis dem von Gerhard Rühm. Zum verlogenen Österreich-Narrativ der Zeit nach 1945 (Österreich als erstes Opfer Hitlers, unbelastete Tradition österreichischer Hochkultur etc.) legen sich beide, das Fortwirken von Faschismus in der Nachkriegsgesellschaft diagnostizierend, quer. Aus dem durchaus fragwürdigen Nullpunktbewusstsein nach 1945 wird die Problematisierung der Sprache zu einem zentralen Thema der österreichischen Literatur, wobei Bachmann und Rühm exemplarisch für unterschiedliche Positionen und Konzepte stehen. Für die Autorin ist nicht so sehr eine „neue Schreibweise“ (S. 7) relevant, sondern die Thematisierung der unbrauchbar gewordenen Sprache als existentielles Problem. Ihre Werke kreisen u. a. um den Gegensatz von „schlechter“ Sprache, „Gaunersprache“, „Nachrede“ und „schöner“, „reiner“ Sprache, einem Utopia der Sprache. Die Autoren der Wiener Gruppe hingegen knüpfen an die durch die Kulturpolitik des austrofaschistischen Ständestaates und des Dritten Reiches verschütteten avantgardistischen Ansätze der historischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts an. Den Texten von Rühm oder den Autoren der Konkreten Poesie eignet ein hohes Maß an Sprachreflexivität, die dazu tendiert, nicht mehr auf Außenwelt zu verweisen, ihr Interesse vielmehr auf den Materialcharakter von Sprache zu richten. Was Rühm in der Einleitung seiner Anthologie Die Wiener Gruppe an Paul Celan kritisiert, dessen angeblichen „postsurrealismus“, den „symbolistisch verpanschten aufguss“ (nach S. 38), ließe sich aus seiner Sicht wohl ähnlich an Bachmann bemängeln, die ihrerseits Poesie, die herkömmlich, allerdings wenig exakt, mit dem Begriff „experimentell“ bezeichnet wird, als „Basteleien“ (nach S. 56) abkanzelt. Gemeint ist jene Dichtung, die die herkömmliche Syntax und poetische Metaphorik eliminiert, der die Versstruktur, so vorhanden, „äußerlich“ (S. 31) bleibt und die ihren Sinn aus dem jeweiligen Verfahren bezieht. Als wichtigstes Kriterium für die Zuordnung zum Lyrischen kann mithin nicht die äußere Form; Versstruktur, intakte Syntax, Metaphorik gelten, vielmehr – so Hapkemeyer – Kürze und Verdichtung. Er exemplifiziert dies anschaulich an Rühm-Werken, vornehmlich aus den Beständen des Museions. Der Bild-Text du etwa durchbricht die gewöhnliche lineare „Leserichtung“ (S. 34), die Typocollage von 1956 bezeichnet Hapkemeyer, Marinettis „parole in libertà“ variierend, als „lettere in libertà“. Die keinen „Wortzusammenhang“ (S. 35) ergebenden Buchstaben erinnern an Sternenhaufen. Interessant wäre es übrigens im Zusammenhang mit diesem Text zu fragen, ob sich ein Bogen zu Rühms umfangreicherer (im Vortrag des Autors eine knappe Dreiviertelstunde dauernder) Abhandlung über das Weltall herstellen ließe, die in einer Ein-Buchstaben-Konstellation, eben in lyrischer Kürze und Verdichtung endet. Bei Rühms Zeitungscollage von 1962 sieht Hapkemeyer den Dichter von surrealistischen „Random-Texten“ (S. 37) inspiriert – man könnte aber auch an aleatorische Texte dadaistischer Autoren denken, die geradezu programmatisch das Collagieren von Zeitungsschnipseln als poetischen Akt propagieren.

Zu breit geraten erscheint im Kontext der vorliegenden „Untersuchungen“ das Kapitel über die „Agrigent-Gedichte von Arendt, Bachmann, Kaschnitz“. Dass die beiden Autorinnen weitgehend konventionellen Formen verpflichtet sind, ist bei allen Unterschieden ihrer thematischen Ausrichtung offensichtlich und bekannt. Am ergiebigsten im gegenständlichen Zusammenhang sind die Ausführungen über Erich Arendts Gedicht Der Sarkophag (Agrigent) von 1976, die die syntaktischen Brüche und die Bedeutung der visuellen Komponente in diesem Gedicht herausstreichen. Im Grunde bleibt der in der damaligen DDR lebende Autor aber auch traditionsverpflichtet in der Metrik (Nähe zum Hexameter) und im Verweischarakter der Sprache.

Spannender als das zuletzt angesprochene Kapitel erscheint das über „Lettere in libertà“ über „Buchstabentexte und -bilder nach 1945“. Ausgehend von einem kurzen historischen Rückblick auf die Bedeutung vor allem der Dadaisten Hugo Ball, Raoul Hausmann und Kurt Schwitters für diese Art von Kunst, versucht Hapkemeyer eine Typologisierung: Er unterscheidet verschiedene „Alphabettexte“, die mehr zur Literatur (z. B. die tschechischen Autoren Bohumila Grögerova und Josef Hiršal mit Naissance du texte von 1962) oder zur bildenden Kunst neigen (der Italiener Piero Manzoni in seinen zwischen 1958 und 1962 entstandenen Tavole di accertamento oder der Österreicher Thomas Feuerstein mit seiner Fotografie Die Welt als Tastatur von 1999), „Raster-Texte“ (wie Dieter Roths Ideogramm, 1957, oder Hansjörg Mayers der Konkreten Poesie naher Text  s a u, 1965), „Text-Löschungen“ (namentlich des sizilianischen Künstlers Emilio Isgrò), „Buchstabenstreuungen“ (wie Franz Mons Buchstabensegmente von 1972) und „Bild-Text-Kombinationen“ (Not wanting …, 1969, von John Cage und Calvin Sumsion oder Ciò che si può dire, 1974, von Corrado D’Ottavi), die z. T. an die Fotocollagen von Hannah Höch und Raoul Hausmann erinnern. Diese unterschiedlichen, sich der „Popularisierung im Kommunikations- und Modedesign“ (S. 74) erfreuenden Buchstabentexte werden im Literatur- und auch im literaturwissenschaftlichen Betrieb wegen eines immer noch eingeschränkten Literaturbegriffs kaum wahrgenommen. Hapkemeyers Arbeit ist eine Aufforderung, dies zu ändern. Das gilt auch für das zweite Hauptkapitel Dichtung oder Kunst?, in dem die Werke einzelner Künstler im Transit zwischen Poesie und bildender Kunst vorgestellt werden.

Die Frage, ob Dichtung oder Kunst, erweist sich letztlich als hinfällig. Zwar fühlen sich einzelne Künstler mal stärker der Literatur, mal entschiedener der bildenden Kunst zugehörig, allerdings gilt für sie alle, dass sie Grenzen aufheben. Ein besonderes Interesse Hapkemeyers gilt dem Werk von Heinz Gappmayr, dessen Entwicklung er auf wenige Seiten überzeugend darzustellen weiß. Die erste Publikation des Tiroler Künstlers, Zeichen (1962), zeigt ihn in der Nähe der Konkreten Poesie, den Materialcharakter der Sprache betonend, schon stark reduktionistisch im Verfahren. Während Gappmayr in diesen Texten noch mit Buchstabenmaterial operiert, stellt er in späteren einzelne Begriffe aus. Hapkemeyer spricht von „visualisierter Philosophie“ (S. 79) verweist auf die den Gappmayr’schen Texten eingeschriebenen Reflexionen über die „Kategorialbegriffe“ (S. 81) „Raum“ und „Zeit“ im Anschluss an Kant. Der Künstler konzentriert sich, der eigenen Aussage zufolge, auf „elementare Bedingungen der Wahrnehmung und nicht [auf] Inhalte“ (nach S. 82)

Ein Autor, der aufgrund der Betonung des Visuellen nicht selten eher der bildenden Kunst denn der Literatur zugeordnet wird, ist Heimrad Bäcker, der Texte nach dem Vorbild der Konkreten Poesie verfasst hat, wie beispielsweise spr ch sp, der aber vor allem durch seine dokumentarischen, die Ungeheuerlichkeit der industriellen Menschenvernichtung im Holocaust nicht beschreibenden, vielmehr durch Zitat die Schrecken ins Bewusstsein rückenden Texte Aufmerksamkeit verdient. Hapkemeyer, der eher nicht den Begriff „Dokumentarliteratur“ auf diese Werke angewandt wissen, vielmehr von „Zitatdichtung bzw. Collageliteratur“ (S. 93) sprechen will, fasst die Bedeutung der Dichtung Bäckers treffend zusammen: Sie stehe „in der Nachfolge der lyrischen Totenklage, nur dass diese nichts Elegisches oder rückblickend Tröstliches, sondern die Kälte von Zahlen, Tabellen und Listen“ (S. 102) ausstrahlen.

Hapkemeyer führt noch einige weitere Künstler an, die sich in unterschiedlicher Weise im Grenzbereich zwischen Literatur und Kunst bewegen. Bewusst tut dies Nanni Balestrini, der nicht mehr lesbare sprachliche Elemente bildkünstlerisch auf Alltagsobjekten, konkret Plastikbeuteln einsetzt. Cy Twombly wird „Affinität zum Lyrischen“ (S. 114) attestiert, der, inspiriert von Stéphane Mallarmé, dem „wichtigsten Dichter des leeren Weiß“ (nach S. 114), Spannung erzeugt zwischen der leeren weißen Fläche und handschriftlichen, vermeintlich flüchtig hingeworfenen Namen. Diese „Ein-Wort-Texte“ (S. 121), besser eigentlich: Ein-Namen-Texte wie Homer, Sappho, Plato (1978), setzen bei verschiedenen Rezipienten je unterschiedliche Assoziationen in Gang. Im Sinne von Hapkemeyers Poesieverständnis seien diese Arbeiten aufgrund ihrer Kürze und Verdichtung nicht nur der bildenden Kunst, sondern auch dem Lyrischen zuzuordnen. Jochen Gerz fordert zu kollektiver Kreativität heraus, indem er via Zeitungen Kunst- und Literaturinteressierte auffordert, ihr wichtigstes Wort zu nennen, das sie dann auf einem T-Shirt aufgedruckt mit dem Aufforderungstext erhalten. Einerseits zeichnen sich die Aktionen von Gerz durch ihre Motivation des Publikums, sich zu äußern – u. a. auch bei einem Mahnmal gegen Faschismus –, andererseits lassen die Rückmeldungen „kollektive Wunschstrukturen erkennen“ (S. 136). Ein wiederum ganz anderes Verfahren wendet Raymond Pettibon an, dessen Arbeiten sich durch Comicnähe auszeichnen. Bildkünstlerische und sprachliche Fragmente setzen sich zum „Fragment einer Geschichte“ (S. 143), genauer zu einer potenziellen fragmentarischen Geschichte zusammen. Ob man jedem dieser Künstler einen Hang zum Lyrischen attestieren kann, sei dahingestellt, ihren Reiz beziehen sie jedenfalls aus der je unterschiedlichen Spannung zwischen bildkünstlerischen und sprachlichen Elementen.

Statt eines Nachworts fügt Hapkemeyer seinen „Untersuchungen“ einen ursprünglich in LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik abgedruckten, leicht modifizierten Essay an, in dem es dem Verfasser um Grenzgänge zwischen Poesie und Design geht. Bleibt schließlich seine Frage, „wie viel von dem sprachaufklärerischen und bewusstseinserweiternden Impuls der konkreten Dichtung bei den heute erfolgenden Übernahmen in Design und Werbung erhalten bleibt“ (S. 167). Die Skepsis ist angebracht

Andreas Hapkemeyer …und das soll Dichtung sein
Untersuchungen zur ,neuen Sprache‘ in Lyrik und Kunst seit den 1950er Jahren.
Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012 (= Film – Medium – Diskurs 41).
175 S.; brosch.
ISBN 978-3-8260-4917-0.

Rezension vom 12.09.2013

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.