Mitten darin: ein beleibter, einäugiger, scharfzüngiger, wortgewaltiger Adliger aus Tirol, besser gesagt aus dem südlichen Teil der Region, der für sich ein mehr als ernüchterndes Fazit zog.
„Wenn Oswald von Wolkenstein“, so sein Biograph Anton Schwob, „- zu dieser Zeit ein Mann von achtunddreißig Jahren, ritterlicher Abkunft, jüngerer Bruder des politisch aktiven Michael von Wolkenstein, gut ausgebildet, einigermaßen wohlhabend, Junggeselle, Pfründner des Chorherrenstifts Neustift, Lehensmann und Angestellter des Bischofs von Brixen, Mitglied des Tiroler Adelsbundes und bis dahin loyaler Untertan seines Landesfürsten – auf sein bisheriges Leben zurückblickte, aus seinen Bemühungen um Erfolge und ihren Ergebnissen Bilanz zog, konnte er nicht zufrieden sein.“
Das war er tatsächlich nicht. Und so kam der kaiserliche Auftrag einer grandiosen und einschüchternden Reise von Oberdeutschland bis nach Spanien und Lissabon und zurück über England gerade recht. Dabei hatte der Tiroler Adlige schon einiges hinter sich: bewegte Jugendjahre inklusive Schiffsunglück, Kriegsteilnahme, Streitereien um eine Burg, Liebeleien, politische Scharmützel. Als Oswald viel später, Anfang 1431, wieder nach Konstanz kam, konnte er eine ganz andere, eine viel positivere Bilanz ziehen. Und ein Porträt aus dem folgenden Jahre belegt dies. Da ließ er sich stolz mit dem Emblem des Drachenordens porträtieren, in dessen hoch exklusiven innersten Zirkel, der aus lediglich 24 Personen bestand, er von Kaiser Sigismund aufgenommen worden war.
Die Konzilsstadt am Bodensee spielte in Oswalds Leben eine herausragende Rolle, hat er doch von seinen 130 überlieferten Liedern und Gedichten rund ein Drittel dort verfasst. Und von diesen 130 Poemen hat Gerhard Ruiss nun 53 übertragen, wie er anmerkt die derzeit umfangreichste Auswahl auf dem Buchmarkt. Gerhard Ruiss hat zuletzt die Bände Sänger im Bad (2001), dichter schreiben keine romane (2004) und Kanzlergedichte (2006) veröffentlicht und es ist höchst angenehm, dass der 1951 geborene, in Wien lebende Autor ganz uneitel hinter Oswald zurücktritt. Keines der tradierten Bilder will er „korrigieren oder ein zusätzliches erzeugen, sondern die Lieder Oswalds von Wolkenstein für sich selbst sprechen lassen“. Es ist also kein Unternehmen einer verkürzenden Aktualisierung, es ist keine aggressive Dekonstruktion, es ist auch keine „Mobilisierun‘ „, wie dies der vor zwei Jahren verstorbene deutsche Experimentalklanglyriker Thomas Kling in essayistischer wie in nachschöpferischer Form versuchte.
Vielmehr findet Ruiss einen klaren, präzisen Ton, eine hie und da fast ein Gran zu sachlich anmutende Klanglage. Und doch wird man dann wieder sehr angenehm überrascht, dass das Musikalische, das Spielerische, die Allusionen und die rhetorischen Elemente keineswegs außer Acht gelassen werden. Auch für jene Lieder findet Ruiss ein ebenso starkes, ebenso musikalisches, ein ganz heutiges Pendant.
Er präsentiert die Lieder des Südtirolers geordnet nach Schlagworten. So setzt der Band ein mit Reisegedichten, auf die Liebeslieder folgen, auf diese Freudentänze, dann Volks- und Heimatlieder sowie Trinklieder. Dem Liebeswerben wird ebenso ein Kapitel eingeräumt wie den Alters- und Wehklagen, dem Abschiednehmen, den Bußliedern und der Marienverehrung. Der Band klingt aus mit Spottgesängen und Spruchdichtungen.
Es ist schade, dass Ruiss beispielsweise das Loblied auf Konstanz, das vermutlich im Januar oder Februar 1431 entstanden ist, nicht aufgenommen hat. Dieses setzt mit den Worten ein: „O wunnikliches paradis, / wie gar zu Costnitz vind ich dich“. Hier erweist sich ‚Paradies‘ als eines der für Oswald typischen mehrdeutigen Wortspiele. Denn es ist nicht nur eine Laudatio auf das Rom des Nordens, „Paradies“ ist zugleich auch der Name des Konstanzer Turnierplatzes (und noch heute gibt es in der Stadt am Bodensee eine Paradiesstraße).
Es ist aber noch mehr: Die als Tanzlied daherkommenden Verse sind nicht nur eine Darstellung sinnlicher Festfreude, sie sind auch politisch. So vermag Oswald ein Stück Adelspropaganda seinen Zuhörern in den Gehörgang zu schmuggeln. Und zumindest in Konstanz wurden die vielen Anspielungen auch verstanden, war doch das Publikum aus Adligen, Klerikern und Gelehrten gebildet und aufgeschlossen. Wobei man sich nicht der Illusion hingeben sollte, Oswald habe seine Lieder so vorgetragen, wie dies heute bei Dichterlesungen geschieht. Vielmehr begleitete er sich selber zur Laute, er sang, er wurde ab und an begleitet von Musikern, denn Oswald war auch ein namhafter Komponist. Währenddessen war die Zuhörerschaft alles andere als still – man unterhielt sich, man trank, man aß, man servierte, man ging und kam.
Ein klein wenig rätselhaft ist, dass Ruiss seiner Übertragung ein derart knappes Vorwort vorausschickt, im dem die Auswahl der Lieder nicht begründet wird. Sollte die Lebendigkeit der Lektüre, die Frische der Verse nicht durch wissenschaftlichen Ballast getrübt werden? Dies jedenfalls hat Gerhard Ruiss ganz vorzüglich erreicht. Dieser mittelalterliche Barde ist nun wieder von neuem und für eine neue Lesergeneration zu entdecken. Zusammen mit Dieter Kühns biographischem Band „Ich – Wolkenstein“ von 1977 steht nun dank Gerhard Ruiss der Oswaldsche Sprach- und Gefühlskosmos erneut zum Erkunden, zum Genießen, zum Lesen weit offen. Länger geschwiegen wird nun nicht mehr.