„Der siamesische Einling
Er dachte, er wäre nicht alleine zur Welt gekommen, der siamesische Einling. Dachte er aber nur.“ (S. 211)
„Unter dem Fußboden‘ ist eine Sammlung von Miniaturen oder Kurzerzählungen. Zu den Texten gibt es ein umfangreiches Glossar. Die Titel in alphabetischer Reihenfolge:“ Diese Kurzbeschreibung findet sich auf der Homepage des Autors Daniel Wisser. Und im Anschluss sind sämtliche Titel von 5561 Tage später bis Zwillinge in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet, es sind 185.
Die Texte stammen aus eineinhalb Dekaden und sind in der gedruckten Erzählsammlung nicht chronologisch nach ihrem Entstehen angeordnet, sondern anhand inhaltlicher Verwandtschaften oder naheliegender Assoziationen. Einzelne Protagonistinnen und Protagonisten tauchen mehrmals auf. Kaum eine Kurzerzählung geht über mehr als eine Seite, die Pointendichte ist entsprechend hoch. Objekt der meist gegenständlichen Miniaturen und kurzen Erzählungen sind historische Persönlichkeiten und Ereignisse, Kuriositäten, Trivia und Kolportiertes aus Zeitungen und Büchern, wobei Erfundenes und Gefundenes, Recherche und Fiktion ineinander übergehen, historische Begebenheiten erfunden oder eben literarisiert sind. Das Interesse des Autors am großen Feld der Musik wird ebenso deutlich wie sein Hang zu Abweichungen und Fehlerhaftem, Unperfektem. Häufig scheitern die Figuren in ihrem Bemühen um Bedeutsamkeit und sie bleiben unbeachtete, unsichtbare Menschen. Besonders scheinen dann vor allem ihre Namen. Die Engführung von Funktion und Namen einzelner Protagonist:innen und auch immer wieder recht skurrile oder zumindest anachronistische „Berufs“bezeichnungen mag mitunter an Thomas Bernhard erinnern („Der Gastwirt Doblhoffer“, „der Dunkelheitsmaler Hornung“ etc.), Daniel Wisser allerdings betreibt Quellenkritik (oder tut so als ob) und macht das Erzählen selbst zum Thema, wenn er etwa über den Wahrheitsgehalt eines Zitats oder einer Behauptung sinniert oder darüber, welcher Schluss für einen Text gut wäre.
Skurriles schildert Wisser in nüchternem Tonfall, was immer wieder ziemlichen Witz und eine feine Komik hat, scheinbare Historizität und Faktizität unterstreichen die Absurdität dieser Miniaturromane.
Diese gesammelten Erzählungen aus den Jahren 2009 bis 2023, ein fortlaufendes Projekt des Autors, das er seit ebendieser Zeit online betreibt, sind teilweise als Bühnenstücke aufgeführt worden und nun im Klever Verlag mit einem umfangreichen „Glossar“ erschienen. Dafür hat der Autor selbst ein Programm für Konkordanzen konsultiert, mit dem zum Beispiel alle Substantive, die häufiger vorkommen und/oder aufeinander verweisen, automatisch gelistet und gezählt werden können, wie er in einem Gespräch auf literadio sagt; und er war über das Auftauchen einzelner Wörter selbst überrascht.
Die Rezensentin wundert sich lediglich ein wenig darüber, dass Verlag und Autor nicht von einem „Register“ sprechen, denn auch wenn durch die Nennung einzelner Begriffe in den verschiedenen Miniaturen Beziehungen und ein Netz aus Bedeutungen zwischen den einzelnen Texten hergestellt wird, was möglicherweise für die literaturwissenschaftliche Wisser-Forschung und Kommentierung eine Erleichterung ist, so finden sich in einem Glossar doch eigentlich Erklärungen einzelner Begriffe. Hier sind es Verweise auf einzelne Wörter. Mensch, Leben, Jahr und Tag kommen am häufigsten vor, auch das Haus in seinen verschiedensten Ausformungen von Affen- bis Wohnhaus – und in dieser Kategorie wiederum am häufigsten das Gasthaus.
Aber sind tatsächlich alle Substantive, die in den Erzählungen vorkommen, aufgelistet? Das zu überprüfen würde den Rahmen sprengen, das Wort „Bestellvorgang“ fand sich jedenfalls nicht im Glossar (das aber auch an keiner Stelle den Anspruch der Vollständigkeit behauptet). Was ist der Mehrwert eines solchen Registers/Glossars und was sagt es über die Bedeutung der Lexik für die einzelnen Texte – Unterschiede, Gemeinsamkeiten? – aus? Möglicherweise ging es darum, der Vorliebe für Daten und Jahreszahlen, den scheinbaren Exakt- und Genauigkeiten, wie sie auch in den fiktiven historischen Ereignissen fiktionalisiert wurden, insofern nachzugehen, dass es eben möglich ist – zum Vergnügen des Autors (und vielleicht auch Verlegers).
Ironisch, tragisch, scheinbar logisch und immer wieder mit viel Liebe zum Detail – „Unter dem Fußboden sind“, so der Blurb von Autorenkollege Thomas Stangl, „wie jeder weiß, Abgründe zu vermuten“. Daniel Wisser selbst weist auf seiner Homepage auf die andere Seite des Fußbodens hin, er zitiert ein Motto von A. Webster, das Ror Wolf seinem Roman Fortsetzung des Berichts vorangestellt hat: „Der Fußboden ist die Unterlage unserer täglichen Existenz, auf ihm ruht und bewegt sich das ganze Tagesleben.“
Der Stillstand und die Bewegungen eines vergeblichen, aber doch menschlich-allzu-menschlichen Tageslebens und was dem zugrunde liegen könnte, ist in Unter dem Fußboden jedenfalls in einer sehr Wisser-spezifischen Wahnwitzigkeit erzählt.
Angelika Reitzer, Schriftstellerin, Drehbuchautorin, Filmemacherin und Literaturvermittlerin, lebt in Wien. www.angelikareitzer.eu