In den hüllt sich die Tochter schließlich und erlebt in ihm das Geistes- und das Nachtleben der Universität und der Großstadt, für das sie sich entschieden hat, geflüchtet aus der Enge der gewaltigen Berglandschaft wie ihre Mutter. Der Pelz, dieses Relikt aus der Zeit der mütterlichen Kurzbesuche am Hof, entwickelt ein Eigenleben. Als „etwas mondän, etwas luderhaft und zerzaust, etwas verloren“ einerseits und unverkennbar animalisch andererseits passt der Pelz zur Protagonistin, deren Naturverbundenheit im engsten Sinn ein Bewusstsein der eigenen Kreatürlichkeit einschließt, ein empfindsames und empfindliches Mitleiden mit den Tieren, das der bäuerlichen Umgebung ihrer Kindheit weitgehend fehlt.
Ihre Tante Antonia verkörpert den pragmatischen Umgang mit dem Tier, der in den Augen der Protagonistin dem gegenseitigen Vertrauen gerecht wird: Antonia stellt verlässlich zur Verfügung, was die Tiere brauchen, damit sie von ihnen nehmen kann, was sie zu geben haben – Milch, Eier, ihr Leben. Neben einer tiefverwurzelten Religiosität bestimmt die Verpflichtung gegenüber den Tieren das Leben von Antonia. Als ihr das Vieh weggenommen wird, bedeutet das ihr Ende.
Die Protagonistin, die buchstäblich zwischen den Kühen aufgewachsen ist, kehrt zu spät an den Ort ihrer Kindheit zurück, um Antonia und ihre Tiere zu retten. Doch die tiefe, prägende Verbindung zur tierischen Umwelt und zu den Bergen lässt sie nicht los. Unter Tieren ist ein Bildungsroman in Episoden, in denen die belebte und unbelebte Umwelt einen Charakter formt, der der patriarchalen, von Gewalt geprägten menschlichen Gemeinschaft nichts entgegenzusetzen hat als Worte und Geschichten, die keiner hören will. Auch für die im Grunde ihres Herzens wohlmeinende Antonia ist das, was ihre Nichte zu sagen hat, nichts als unnützes Gerede, denn Antonia hat sich auf diese Welt eingestellt, in der alles gezähmt und der Wille gebrochen werden muss, nämlich der von Tieren genauso wie der von Kindern und Frauen.
Die erste große Liebe der Ich-Erzählerin gilt der Hündin Pirat. Mit ihr wächst sie auf, erkundet sie die Umgebung des Bauernhofs, zu ihr flüchtet sie vor den Zumutungen der Menschenwelt. Als sie im Sommer auf der Alm die Kühe hütet, begleitet Pirat sie. Die Abgeschiedenheit einer Almhütte, das Zwiegespräch mit einer Kuh, ein Hund als Gegenüber der Protagonistin und auch das Ende dieses Tieres rufen Assoziationen zu Marlen Haushofers Meisterwerk Die Wand wach, was in Unter Tieren auch explizit gemacht wird.
Am Ende des Sommers begegnet Agnes ein Hirte, „eine scheue Gestalt mit runden Brillengläsern und einer dunklen Joppe, aus der immer ein gelbes Büchlein herausragte“, der als Klischee wie eine Märchenfigur auf die Alm gesetzt wirkt. Einst war er designierter Hoferbe, wegen seines Mitleids mit den Tieren wurde er vom Vater für verrückt erklärt und darf nur mehr drei Monate im Jahr die Kühe hüten, den Rest der Zeit verbringt er studierend oder lesend in der Stadt. Die literarischen Schauplätze seiner Lektüren, von Shakespeare über Goethe und Virginia Woolf bis hin zu eben Haushofer verquickt er im Geiste mit der Südtiroler Berglandschaft, in der die 1970 in Brixen geborene Obexer ihren Roman spielen lässt.
Die Schilderungen von Almen und Berggraten, Felsen und Bäumen, das Auf- und Absteigen der Heldin und ihrer tierischen Begleitung, der Wechsel des Lichts, die Gefahren, die der steinige Untergrund birgt, das alles stellt uns die Autorin mit Liebe zum Detail in konturierten Miniaturen vor Augen, und von einigen stilistischen Ausrutschern abgesehen ist das gekonntes nature writing. Die Brutalität einer Sauschlachtung, das grobe Verladen der Kühe, die Lächerlichkeit des touristisch verwerteten Almabtriebs und die Arroganz der städtischen Wanderer in grellbunter Plastikfunktionskleidung sind hingegen erwartbare Elemente, die die Botschaft allzu dick unterstreichen. Gut beobachtet hingegen: Die Städter, die den Speck, das Brot und den Wein aus Eigenbau loben, tun das absprechend, denn es sind lobende Worte für das „urwüchsige Gemüt der Bergmenschen“, die seien wie der Berg: „reinen und edlen Gemüts“ – und schweigend.
Die Landwirtschaft wird von immer größer werdenden Bauernsöhnen auf immer größer werdenden Traktoren und von Vieh-, Wein- und Obstverbänden dominiert, eine Welt, in der Antonia mit ihrer ritualisierten Gläubigkeit, ihrem Pflichtgefühl gegenüber ihren Tieren und ihren Kräuterteemischungen verloren ist. An jenen Stellen, an denen der Roman von der engen Beziehung zum Mitgeschöpf handelt, vom Trost, der den Figuren aus dem Umgang mit Tieren erwächst, dort, wo das Buch zeigt, wie ein junger Mensch durch die Freundschaft mit einem Tier das Bewusstsein seiner eigenen Existenz und Endlichkeit entwickelt, sind tiefschürfende ethische Fragen gekonnt subtil verpackt. Die Leserin müsste mit der Protagonistin nicht erst einen Ausflug ins philosophische Seminar machen, um zum Nachdenken über die kulturelle und historische Bedingtheit unseres Menschen- wie Tierbildes angeregt zu werden. Am Ende steht dann zum Glück weder der große Untergang noch ein kitschiges Happy End, sondern das Potential eines Neuanfangs mit einem neuen tierischen Begleiter an der Seite der Ich-Erzählerin.
Karin S. Wozonig, Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Anglistik/Amerikanistik und Germanistik an der Universität Wien und UCLA (USA). Publikationen zur deutschsprachigen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts und zur Chaostheorie. www.karin-schreibt.org