Hier handelt es sich um sechs motivisch lose zusammenhängende und gut „in einem Lauf“ lesbare Prosatexte, die wieder in kleinere Passagen unterteilt sind – mit entsprechend skurrilen Titeln: „Was pochet an? (Vor lauter Flusen am Morgenrock)“ heißt etwa der erste Text mit den Teilen „Tür und Tor stehen euch offen“, „Ei, wie bekloppt“ und „Selbst ein Kürbis hält so seine Namen“.
Obwohl Christian Steinbacher sich dieses Mal vielleicht stärker auf „lebensweltliche“ Begebenheiten, Alltagsbeobachtungen und alltägliche Wortwechsel bezieht, wohl auch stärker einen Erzählton anschlägt als in seiner früheren Prosa, bliebe für eine Rezensentin Nacherzählen naturgemäß der verkehrteste Beschreibungsversuch. Und zudem ein fast unsinniges Unterfangen, das sich zuletzt in zuvielen möglichen Deutungen verlöre, Inhalt und Ergebnis dort suchen wollte, wo es gilt, einen Prozess zu beobachten oder, anders gesagt: dem Dichter lesend zuzusehen, wie er die (einmal angestupste, systematisch sprunghafte) Sprache an langer, luzider Leine sich fortspinnen lässt, seinen Blick auf dabei sich entwickelnde Metaphern, Fragen, perspektivische Verschiebungen oder entstehende Geistesblitze richtend, ohne die dazwischenliegenden Längen ganz auszublenden.
Vagabundierende Umstände: Dieser schöne Ausdruck, einem Untertitel Steinbachers entlehnt, passt nicht schlecht zum Bild der „Welt“, das Leser durch die kaleidoskopisch funktionierende Brille (eine Innovation) dieses Textes erkunden. Eigentlich personengebunden, verleiht das Verb „vagabundieren“ den Umständen ein teils menschenähnliches Eigenleben bzw. eine fremdartige/unergründliche Eigendynamik (übrigens treten hier auch Dinge und Pflanzen oft wie kommunizierende Lebewesen auf, und wie leere Allegorien oder, aus anderer Perspektive: Sie werden in der Sprache, und allein da, magisch). In diesem Sinn: Was vagabundiert, bleibt in Bewegung, geht, kehrt wieder, lässt sich nicht festlegen. Hält sich im Vagen, und ist bereit, auf der Suche nach einem Zustand „des Offenen“ jederzeit die Richtung zu wechseln. Und: Was vagabundiert, entfernt sich nie ganz (ein Vagabund ist kein Reisender), doch lässt es auch kaum genug zum Verstehen, oder gar Analysieren; ein Umstand tritt ein und schwupps, im nächsten Moment, tritt er wieder zur Tür hinaus, deren Klinke der nächste schon drückt. (Und geht der, kann man nicht sicher sein, ob nicht der vorherige wiederkommt. Was, by the way, den Nerv der elektronisch getakteten Gegenwart trifft, in der man kollektiv unter vagabundierenden, wo nicht verwildernden Umständen leidet, oder? Stichwörter: die tägliche Menge disparater Informationen, Anrufe, E-Mails und die vielen Anforderungen und das schlechte Gewissen, nicht alles erledigt zu haben – Georg Simmel konstatierte schon für die 1920er Jahre angesichts der Reizüberflutung, der ein Großstädter ausgesetzt war, dass sich dieser nicht mehr als Subjekt, sondern als Objekt erfahre. Im Gegenzug gleichen die Dinge, die einen aktiv zu bedrängen scheinen, Subjekten.)
Doch kann eine Antwort auf die Frage, wo denn die Umstände vagabundieren, hier nur lauten: in der Sprache, oder durch die Sprache des Dichters. Und das bedeutet: vagabundierendes Denken. So durchstreift die Prosa Steinbachers diverse Kontexte, Themen und Formen. Mal geradlinig, mal mäandernd und mit Seitenschlenkern führt sie uns etwa, oft in rasantem Tempo, über Botanisches zur Erinnerung an ein Essen mit Freunden, an kleine Reisen, an Gelesenes, Gehörtes, dann weiter zu Gesprächsfetzen, zu Reflexionen über die Tätigkeit des Schreibens, das eigene Altern und noch weiter, bis sie wieder, unerwartet, aus anderer Richtung, eines der vorherigen Themen streift … Und dies im Erzählton, der mal zum verschrobenen inneren Monolog tendiert, mal mit einem dem Leser unbekannten „Du“ oder einem „Ihr“ argumentiert, ab und zu direkt den Leser anspricht oder, ein paarmal, ins Lyrische mündet. So beginnt zum Beispiel nach einer Reflexion über Schönberg und die von ihm gehasste Zahl Dreizehn ein Gedicht in drei je dreizehnzeiligen Strophen, deren Verse aus je dreizehn Silben bestehen; es beginnt so:
„Um Zopf und Kragen wirkt es aber karg, nicht schlüpfrig, / stünden die Plagen beieinander alle, klaffte, / was filetiert wie ein Kapaun aus sich bloß Fett schöpft, / kaschieren wir zur Kascha aus dem fernen Russland / – ein Schlagabtausch allein nicht Rot noch Blau ergebe – / Orangen. O, da schäl ich lieber einen Müllmann, (…)“
Zur Mutation der Wörter als Textscharnier (strukturbildend): Das Besondere und immer wieder Überraschende, ja Unterhaltende dieser Kunst liegt jedoch in der Nähe, aus der Steinbacher die Wörter betrachtet und handhabt. In dieser, vom Umgangssprachlichen sich entfernenden Perspektive zeigen sich Wörter dinghafter, in ihrer Begrifflichkeit variabler und kehren uns andere als die „gewohnten“ Seiten (einen vorhandenen, aber oft „verdeckten“ Sinn) zu. Der Dichter nutzt’s meisterhaft und präsentiert, verknüpft sie neu, ja, irregulär, und changierend in ihrer Mehrdeutigkeit (wie Dinge, mit denen man Umgang pflegt, wenn man sie nah betrachtet). Schließlich sind sie auf dem Feld der Sprache: Metaphern. Und als solche wandeln sie sich in diesem Buch ständig; ein „Wort-Bild“, ein Motiv zieht da ganze Assoziationsketten nach sich, verwandelt sich über Konnotation, Kalauer und Sprachspiel in das nächste, schlägt Volten, kapriolisch (s. Zitat oben).
Und im Zuge dessen ändert sich der Kontext ständig (vagabundierende Umstände halt); glaubte man eben noch von einem übersiedlungshalber vergessenen Weihnachtsstern zu lesen (im Abschnitt „Lückenstopfen“), sieht man sich im nächsten Moment am Rande eines Beziehungsdialogs, der zunehmend in einen „existentiellen“ Modus wechselt (und bald, Banalerem zuliebe, verlassen wird):
„Nein, das ist nur ein Name. Nein, das ist nur ein Weihnachtsstern. Den haben wir durchgebracht. Beim letzten Wohnungswechsel. Blieb einfach stehen. Nach drei Wochen war er immer noch ‚intakt’ (wie sagen die Botaniker doch schnell dazu?). Er wollt nicht weichen. Genau so stand er da. Hat er gewartet, sich dabei gedacht, er komme ohnedies mit, nachdem da Stück für Stück schon aus dem Raum getragen wurden. Dann nur noch vereinzelte Verpackungsrelikte, ein verbogener Besen. Muss ihm wohl doch was geschwant haben. Wächst jetzt aber ohne Rot weiter, und auch nur noch die Stängelchen. Bestes Rhababerrot in etwa. Jetzt lugt er gar schon keck über den Tisch. Und: ‚Ich will dir doch keine Belastung sein’, sagt er. Versprich mir, dass du dich sofort von mir trennst, wenn ich einen Kopftumor bekomme. Oder wenn ich wahnsinnig werde. Die Angst vor der Angst. Oberarm, Hals und Brust zittern. Befundland (blöd).“
Übrigens: Der Alltag ist das eigentliche Abenteuer, also die Wörter des Alltags. Und dass man im scheinbar Oberflächlichen, Banalen neben Abgründen schlendert, gehört dazu, wird also auch bemerkt und notiert. Nicht mehr.
Der Hauptakteur, Wahrnehmungsfilter und -produzent „Sprache“ hebelt die Kausalzusammenhänge oft aus, im Steinbacher’schen Erzählton gerät die „Ordnung der Dinge“ dann auf tragikomische Weise aus den Fugen, wird durcheinandergewirbelt und neu gebildet, gereiht: Vom Ei über den Eierbecher mit „furistischem“ Pyramidensockel und die bis zu einer Stunde anzeigende Eieruhr geht’s zum vermeintlich afrikanischen Zeitgefühl, in dem angeblich Zukunft und Vergangenheit zusammenfallen, bis zur Reflexion über den Schreibvorgang. Und wie auch nicht? Ist nicht Sprache das Medium, worin Vergangenes und Zukünftiges einander überdecken können? Zum Beispiel, wenn das Notieren von Erinnerungen die nächsten Seiten füllen soll – liegt dann nicht die Vergangenheit vor dem Schreibenden, in der Zukunft? Erkenntnisse wie diese verdankt man der Lektüre dieses Buchs, und das ist aufregender, wirkt einschneidender, nachhaltiger, als es zunächst scheint.