#Sachbuch

Unterwelten

Uwe Schütte

// Rezension von Gerald Lind

Zu Leben und Werk von Gerhard Roth.

Gerhard Roth (geb. 1942) zählt ohne Zweifel zu den bedeutendsten österreichischen Schriftstellern der Gegenwart – jedoch nicht zu den meistgelesenen. Sein aus Romanen, Essays, Theaterstücken, Fotografien und Drehbüchern bestehendes Werk ist voraussetzungsvoll, komplex, heterogen und ausufernd. Der Birminghamer Germanist Uwe Schütte legt nun mit Unterwelten. Zu Leben und Werk von Gerhard Roth einen niederschwelligen und konzisen Überblick vor, der die wesentlichen Aspekte dieses manchen als schwierig geltenden Autors über die engen akademischen Fachgrenzen hinaus einer breiten LeserInnenschaft zugänglich macht.

Schütte, der mit seiner von W. G. Sebald betreuten Dissertation Auf der Spur der Vergessenen (Böhlau 1997) ein bis heute gültiges Standardwerk zu Roths Zyklus Die Archive des Schweigens vorgelegt hat, verbindet in „Unterwelten“ bereits erarbeitete Einsichten mit neuen, aktuellen Perspektivierungen. Dabei geht er weniger von einem theoretisch informierten Ansatz aus als vielmehr von thematischen Konstanten, die vom Erstling die autobiographie des albert einstein (1972) bis zum letzten Buch Orkus (2011) feststellbar sind: „Sprachkritik, Erkenntniskritik, Gesellschaftskritik, Wissenschaftskritik, Rationalitätskritik“ (S. 52), die intensive Beschäftigung mit dem ruralen und urbanen Raum, dem nationalsozialistischen Verbrechensregime und der Schoa, mit der Auslotung literarischer und künstlerischer Ausdrucksformen und nicht zuletzt und verbunden mit allen genannten Aspekten die Krankheit, der so genannte Wahnsinn (die Schizophrenie) und die „Normopathie“ (die krankhafte Normalität).

Um einer rein autorzentrierten Interpretation zu entgehen, stellt Schütte den Textanalysen einen separaten biografischen Teil voran, der von Gerhard Roths Sozialisierung als Arztsohn im Graz der Nachkriegsjahre anhebt. Von einer Atmosphäre des Schweigens ist hier die Rede, vor allem was die Verwicklung der Elterngeneration in den Nationalsozialismus und das Tabuthema Sexualität betrifft, und ebenso von patriachalischer Einflussnahme: Gerhard Roth sollte nach väterlichem Vorbild den Arztberuf ergreifen, war aber vielmehr an den „schönen Künsten“ interessiert und wurde außerdem bereits mit 18 Jahren noch vor Ablegung der Maturaprüfung Vater. Vor diesem konfliktbeladenen biografischen Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass Roth erst vergleichweise spät, im Alter von 30 Jahren und nach Abbruch des Medizinstudiums, erste literarische Erfolge feiern konnte.

Ist die Aufarbeitung der prägenden Jugendjahre ebenso wie die vorgenommene Darstellung von Roths akribischer Arbeits- und Schreibweise spannend und informativ, so driftet die Biografie in einigen Passagen doch etwas ins Anekdotenhafte ab. Nicht jedes Reiseerlebnis Roths ist signifikant für das Verständnis seiner Arbeiten, und auch die Kenntnis der Krankheitsgeschichte des Autors führt nicht zwangsläufig zu Erkenntnisgewinn. Vielleicht hätte man in den biografischen Teil auch die Stimmen einiger Weggefährten, KritikerInnen und SchriftstellerkollegInnen Roths einfließen lassen können, um die doch recht stark auf den Autor konzentrierte Sichtweise polyphonisch anzureichern.

Die auf den biografischen Teil folgenden Textanalysen sind chronologisch aufgebaut und in drei Abschnitte gegliedert: In das aus experimentellen Arbeiten und Reiseromanen bestehende Frühwerk sowie in die beiden „gleich einer Doppelhelix miteinander verknüpfte[n]“ Zyklen Die Archive des Schweigens und Orkus, für Schütte in ihrem Gesamt „ein veritabler Solitär im Korpus der Weltliteratur“ (S. 11). Dabei ist dem Birminghamer Germanisten hoch anzurechnen, dass er das heute beinahe in Vergessenheit geratene experimentelle Frühwerk ebenso sorgfältig behandelt wie die späteren Arbeiten. Denn gerade im anarchistischen und auch rebellischen Gestus der Frühwerke entdeckt Schütte eine kreative Energie, die vor allem im zweiten Zyklus Orkus von einem polyhistorischen Zugang verdeckt wird, letztlich aber Roths treibende künstlerische Kraft bleibt.

Eine nahezu perfekte Balance zwischen anarchistisch-kreativem Experiment und multiperspektivischer Geschichtsaufarbeitung gelang Roth vor allem in Landläufiger Tod (1984), dem zentralen Werk der Archive des Schweigens. Völlig zurecht ist dieser fast 800 Seiten lange Text für Schütte „unzweifelhaft, wenngleich als solches kaum wahrgenommen, ein Werk der Weltliteratur“ (S. 104). Anhand der Analyse dieser monumentalen Arbeit lässt sich nun die große Stärke wie auch die logische Schwäche von Unterwelten zeigen.
Zum einen gelingt es Schütte, auf relativ geringem Textraum (S. 104-122) alle wesentlichen Aspekte dieses Überromans anzusprechen und kurz, aber präzise zu beschreiben: vom Schreibmodel des Bienenvolkes (dem „Bien“) bis zu den Kompositionsgrundlagen „Sammeln und […] Bricolage“ (S. 107), von der Schizophrenie über den naturgeschichtlichen Aspekt bis zu den surreal-phantastischen Elementen, die Schütte als „Magische[r] Realismus“ (S. 108) bezeichnet. Andererseits ist es aber auf nicht einmal zwanzig Seiten und mit einem niederschwelligen, „einführenden“ Ansatz schlichtweg nicht möglich, Tiefenebenen des Textes in extenso nachzugehen und zum Beispiel über eine Serie von Close Readings die rhizomatische Semiotik einzelner Textteile zu erschließen.

Was nun aber mit einem panoramatischen Zugang möglich ist, erfüllt Schütte souverän und mit Bravour, auch dort, wo er sich – wie beim Orkus-Zyklus – nicht auf ein breites Fundament eigener Vorarbeiten stützen kann. Mit genauem Blick für die thematischen und figurenbezogenen Verbindungslinien der beiden Zyklen wie auch für Roths narrative Scharaden liefert Schütte die erste Gesamtanalyse des 2011 abgeschlossenen Orkus-Zyklus. Obwohl er dabei jeden Zyklusband ausführlich bespricht, legt er sein Hauptaugenmerk zurecht auf Das Labyrinth, das „fiktionale […] Zentralstück des Orkus“ (S. 176) sowie auf den aus Das Alphabet der Zeit (2007) und Orkus. Reise zu den Toten (2011) bestehenden autobiografischen Schlussteil des Zyklus. Liest man diese beiden autobiografischen Schriften, in denen Roth seine persönlichen und literarisch-künstlerischen Prägungen erkundet, auf der Folie des gesamten Werkes, so wird eine Entwicklungslinie evident, die vom anarchistischen Experimentaldichter zum faschismuskritischen Gedächtnisarbeiter und schließlich hin zum universell gebildeten, seine eigene Rolle als Scharnier zwischen Fakt und Fiktion spielerisch reflektierenden Autor führt. All diesen Lebensphasen und Rollen liegt jedoch eine sich am Ende des Orkus-Zyklus, bei dem der Autor selbst in den Mittelpunkt rückt, besonders deutlich manifestierende Unerbittlichkeit in der Selbsterforschung und konsequente Konfrontation mit den eigenen Dämonen zugrunde.

Uwe Schütte hat mit Unterwelten einen ausgezeichneten und dringend benötigten Wegweiser durch Gerhard Roths Gesamtwerk geliefert, der hoffentlich das – auch durch Roths Rückzug aus dem öffentlichen Diskurs bewirkte – nachlassende Interesse an diesem herausragenden Autor wieder neu anregen wird. Denn eines ist nach der Lektüre von Schüttes Werkzusammenschau klar: Von einigen gehypten AutorInnen der Nachfolgegeneration trennt Gerhard Roth nicht nur der Mut zu unkonventionellen Schreibweisen und überlebensgroß erscheinenden Zyklusprojekten, sondern vor allem auch die von Bestsellerattitüden freie Ambition, der Welt mit literarisch-künstlerischen Mitteln immer wieder aufs Neue auf den bodenlosen Grund zu gehen.

Uwe Schütte Unterwelten
St. Pölten, Salzburg, Wien: Residenz, 2013
221 S.; geb.
ISBN 978-3-7017-1593-0.

Rezension vom 01.11.2013

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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