Kein zu hoher Berg, den es noch zu erklimmen gälte, keine unvorhersehbare Wendung, die alles zuvor Erlebte in den Schatten stellen könnte, nichts, das den vermeintlich vorgezeichneten Weg an einer über Nacht auftretenden Gabelung zum Mäandern brächte. „Wohin fallen die Vorstellungen, die nicht gelebt werden?“ In die „Ritzen der Zeit, wo sie verschwinden?“ (Seite 9), fragt ein:e Erzähler:in, abwechselnd den literarischen Blick auf Emma und Emmas Mutter werfend, in Hannah Oppolzers Debütroman Verpasst zu Beginn des ersten Kapitels, das von Emmas Mutter erzählt. Diese scheint spätestens seit Emmas Geburt an Depressionen zu leiden. Über dem Mutter-Tochter-Verhältnis liegt seit jeher eine Trübheit, wenn auch im Verborgenen, beide scheinen sich nur durch eine Milchglasscheibe zu betrachten. „Sie [Emma] hat noch nie hinterfragt, warum sie stets um ihre Mutter kämpfen musste – diesen über alles geliebten und gehassten Menschen, der aus irgendeinem Grund ihre Mutter geworden war.“ (Seite 112)
In Georg, ihrem langjährigen Freund, findet Emma Stabilität und Halt, zu Besuch bei seinen Eltern gleitet Emmas Blick über die Fotowand, die schon das Bildnis von Emmas und Georgs Kinder vorwegzunehmen weiß, zumindest in Emmas Fantasie, die ihr aber damit nicht unbedingt einen guten Dienst erweist. Denn eigentlich schlummern in der „braven, folgsamen“ (Seite 107) Emma ebenjene Vorstellungen, die sie noch nicht gelebt hat. Plötzlich fürchtet sie sich davor, dass das „Klischee eines Lebens“ (Seite 113) später hinter ihr liegen könnte, genau so wie es bei ihrer Mutter war: „Hals über Kopf hat sie sich in ihr Leben gestürzt. Den ersten Mann geheiratet, den sie geliebt hat, weißes Kleid, Hochzeitstorte, dann kam das Kind und mit dem Kind Kindergarten, Schule, Geburtstagsfeiern, alles zum rechten Zeitpunkt, so wie es sich gehörte.“ (Seite 113)
Wie es sich gehört. Und auf der Suche nach dem rechten Moment gehört es sich auch, aufzupassen, dass man nichts verpasst. Kairós nannte man diesen im alten Griechenland, in der griechischen Mythologie ist Kairós der Gott des richtigen Augenblicks – im Gegensatz zu Chronos, der die fließende Zeit verkörpert. In Hannah Oppolzers Roman sind der perfekte Moment und das Fließen der Zeit die zwei Hauptmotive, die als entgegengerichtete Pole kontrastieren, wie Vorstellung und Wirklichkeit voneinander abweichen, sich aber auch gegenseitig bedingen können.
Mit der Figur der Emma – sowie mit jener ihrer Mutter – zeichnet die Autorin das Bild der angepassten Frau, die jedoch nicht so ganz hineinpassen will in das Korsett, in das die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sie pressen beziehungsweise in das sie sich selbst pressen lässt. Vielleicht weil sie Angst davor hat, im Fluss des Lebens den richtigen Weg zu verpassen. Soll sie die Wut über die herrschenden Verhältnisse hinunterschlucken, den Seitensprung einem quälenden Gewissen anvertrauen, sich der Fügung nicht widersetzen? Um erst später zu erkennen, dass etwas „schon immer in Scherben gelegen hat, von Anfang an und dass es nichts gibt, zu dem sie sich zusammenfügen lassen würden“, bis der Zeitpunkt gekommen ist, „aus den Scherben etwas Neues zu schaffen“. (Seite 170)
Und auch Emmas Vater ist vielleicht ein Scherbenmensch, der etwas in sich verbirgt; jemand, der Entscheidungen getroffen hat, um nicht eines Tages mit den Konsequenzen jener leben zu müssen, die er nicht getroffen hat: „Die Waldwege, die er bisher betreten hat, waren immer schon flachgetreten von unzähligen Schuhpaaren vor ihm, und auf den Büschen, deren Blätter er zur Seite geschoben hat, waren immer schon Fingerabdrücke von anderen Menschen gewesen.“ (Seite 96f.)
Auf der Suche nach dem perfekten Leben, das im „Puppenhaus [der] Kindheit“ beginnt, aus dem man aber „ohne Fallschirm“ (Seite 128) geworfen wird, findet die Mutter leuchtendes Glück ausgerechnet in der Vergänglichkeit: in der Erinnerung an das Sandburgbauen am Meer – ein „vergängliches Bauwerk in einer vergänglichen Welt“ (Seite 183). Jahrzehnte später wird die Zeitlichkeit sprichwörtlich wieder an ihre Tür klopfen und sie an ihre Tochter erinnern, die zu diesem Zeitpunkt schon balancieren wird wie „Seiltänzerinnen […] über dem Abgrund“ (Seite 113) – wie sie selbst.
In ihrem Debütroman Verpasst spürt Hannah Oppolzer mit einfühlsamer und lebendiger Sprache einem fragilen Mutter-Tochter-Verhältnis nach und lotet dabei die Berührungspunkte von Nähe und Distanz literarisch gekonnt aus. Gehaltvoll – und berührend.
Evelyn Bubich, geb.1988 in Klagenfurt, studierte Komparatistik, Digital Media Publishing und Kommunikationsmanagement; Autorin, Lektorin, Literaturvermittlerin; Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Tageszeitungen und Anthologien sowie im Freien Radio; Literatur-Performances und genreübergreifende Arbeiten; Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift Podium, Vorstandsmitglied der IG Autorinnen Autoren; lebt in Wien. Homepage von Evelyn Bubich