#Sachbuch

Veza Canettis
Sozialkritik in der
revolutionären Nachkriegszeit

Eva M. Meidl

// Rezension von Evelyne Polt-Heinzl

Es ist ein schmaler Band, den Eva M. Meidl zum 100. Geburtstag von Veza Taubner-Calderon, verheiratete Canetti (geb. 21. 11. 1897 in Wien) vorlegte, und das hat in diesem Fall symptomatischen Charakter. Eine Biografie Veza Canettis ist auf Basis der bislang veröffentlichten Schriften und Briefe kaum zu schreiben. Ihr bekanntes Werk ist schmal, persönliche Aufzeichnungen sind – soweit absehbar – nicht vorhanden. Der Weg zu ihrer Person führt über spärliche Erwähnungen von Zeitgenossen (z. B. Ernst Fischer, der bei ihr Englisch-Stunden nahm) und vor allem über die Stilisierung ihrer Figur in der dreibändigen Autobiografie ihres Mannes Elias Canetti, vor allem im Band Die Fackel im Ohr (1980), der siebzehn Jahre nach ihrem Tod erschien.

Weitere zehn Jahr mußten vergehen, bis ein Zufall zur Wiederentdeckung der Schriftstellerin Veza Canetti führte. In der ehemaligen DDR sollte eine Anthologie aus dem Jahr 1933 neu aufgelegt werden, die ihre Kurzgeschichte Geduld bringt Rosen enthielt. Die Recherchen der Herausgeber führten zu Elias Canetti und in der Folge zum Erscheinen des Bandes Die gelbe Straße (1989). Über Elias Canettis jahrzehntelanges Totschweigen der literarischen Arbeiten seiner Frau und seine etwas gezwungen wirkende Rechtfertigung im Vorwort des ersten Buches ist bei Erscheinen viel gerätselt und diskutiert worden. Erkenntnisse lassen sich daraus allenfalls zur Problematik „schreibende Paare“ gewinnen und nicht zur Person Veza Canettis. Sie ist, zumindest bei der aktuellen Materiallage, aus dem Rückblick kaum mehr zu rekonstruieren, obwohl Eva Meidl keine Mühen scheute, Aussagen über Veza Canetti aus Autobiografien, Briefen und von noch lebenden Zeitzeugen zusammenzutragen. Aus der großen zeitlichen Distanz geraten die Urteile der befragten Gewährspersonen zu einem etwas starren Einheitsbild einer warmherzigen, extrem zurückgezogenen, stillen (resignierten) Frau, die am gewohnheitsmäßig eingenommenen Platz im Hintergrund ihres Gatten nur selten und eher zufällig sichtbar wurde.

Was Eva Meidl im Hauptteil des kleinen Bandes versucht, ist denn auch weniger eine Biografie Veza Canettis, denn eine Analyse ihres bislang bekannten Werkes. In drei thematischen Komplexen – soziales Engagement, Frauenfiguren und die Zentrum-Peripherie Problematik der Donaumonarchie (am Beispiel des Stückes Der Oger) entsteht ein rundes Bild der behutsamen und wachen Autorin Veza Canetti. Besonders interessant vielleicht das mittlere Kapitel, das Veza Canettis Arbeit als bewußtes Ausdifferenzieren der zeittypischen – auch bei Elias Canetti bis zur Unkenntlichkeit schematisierten – Frauenstereotypen darstellt (Lina und die Runkel aus Die gelbe Straße etwa als die zwei Seiten des Mythos von der Frau, wie ihn Elias Canettis in der Romanfigur Therese in Die Blendung karikiert).

An keiner Stelle verliert die Untersuchung dabei die Tatsache aus dem Auge, daß jeder verallgemeinernden Aussage etwas Provisorisches anhaftet, solange nicht alle im Nachlaß vorhandenen Arbeiten bekannt und veröffentlicht sind. Zwar sind Dank der Recherchen Eckart Frühs eine Reihe von Pseudonymen gelüftet (Martina / Martha Murner, Veza Knecht), unter denen ihre Erzählungen in den 30er Jahren in der österreichischen Arbeiter-Zeitung erschienen, aber auch hier sind weitere Entdeckungen durchaus möglich. Einige zumindest dem Titel nach bekannte Texte sind immer noch verschollen, wobei der Hanser Verlag im Februar 1999 – nach dem Vorabdruck in der Basler Zeitung (Peter von Matt ist der Nachlaßverwalter Elias Canettis) – mit der Veröffentlichung des Romans Die Schildkröte eine weitere Lücke schließt.

Die Bibliografie im Anhang zeichnet den wissenschaftlichen Abdruck dieser mehr als ein halbes Jahrhundert verwischten Spuren eines Schriftstellerinnenlebens nach: Schweigen bis 1990, dann einige Aufsätze und eine Fülle von Zeitungsartikeln im Gefolge der begeisterten Rezeption ihrer seit 1989 aufgelegten Werke. Abgedruckt sind auch drei Erzählungen aus der Arbeiter-Zeitung von 1933, die noch in keinem der bisher erschienenen Bände Aufnahme fanden. Überzeugend vor allem die feine psychologische Studie Die Große über das Schlüsselerlebnis im Leben der aus ärmlichen Verhältnissen stammenden kleinen Käthi in der Bürgerschule.

Eva Meidls schmaler Band leistet, was aktuell geleistet werden kann und verzichtet – zugunsten einer Analyse von Veza Canettis literarischem Schaffen – auf eine zu ausufernde Beschäftigung mit dem Thema „Schicksale schreibender Frauen“, zu dem der Fall Veza / Elias Canetti leicht verführt.

(Kleine Nachbemerkung zum fehlenden Lektorat: Nicht verwirren lassen darf man sich von dem sehr prominent plazierten Siglen-Verzeichnis. Von den vier hier aufgelisteten Abkürzungen stimmt eine nicht mit dem Text überein: „GB“ für den Band Die gelbe Straße wird im Text hartnäckig als „GS“ zitiert. Und wer den in der Bibliografie angeführten Aufsatz von Dagmar Lorenz in der Zeitschrift Modern Austrian Literature sucht: er erschien nicht in Heft 3/4 1995 sondern bereits zwei Jahre zuvor.)

Eva M. Meidl Veza Canettis Sozialkritik in der revolutionären Nachkriegszeit. Sozialkritische, feministische und postkoloniale Aspekte in ihrem Werk.
Im Anhang: Drei wiedergefundene Kurzgeschichten von Veza Canetti.
Frankfurt am Main u. a.: Lang, 1998.
(Historisch-kritische Arbeiten zur deutschen Literatur. 24).
140 Seiten, broschiert.
ISBN 3-631-33269-6.

Rezension vom 03.02.1999

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.