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Vierzehn Nothelfer

Hermynia Zur Mühlen

// Rezension von Primus-Heinz Kucher

Als die in den späten 1920er Jahren erfolgreiche, anerkannte, sich freilich auch selbstlos ausbeutende Schriftstellerin Hermynia Zur Mühlen, geborenene Gräfin Hermine Isabella Maria Viktoria Folliot de Crenneville am 1. April 1933 von Frankfurt nach Wien zurückkehrte und sich der „Vereinigung sozialistischer Schriftsteller“ (nach ihrem Abrücken von der KPD) anschloß, stellte sich ihr umgehend das Problem, als politisch aufmerksame, ja punzierte Autorin unter den auch in Österreich sich dramatisch ändernden Bedingungen als Emigrantin in der ehemaligen Heimat Fuß zu fassen.

Wer nicht für das Theater schrieb, blieb dabei eigentlich nur auf den Bereich der Zeitungen und Zeitschriften verwiesen, ein schwieriges und ab 1933 von Zensureingriffen und Verboten geprägtes Terrain. Es überrascht auf den ersten Blick, daß Hermynia Zur Mühlen in dieser für sie auch lebensgeschichtlich einschneidenden Periode als immerhin bereits fünfzigjährige Autorin noch im selben Jahr 1933 zwei Fortsetzungsromane für die Tageszeitungen „Die Stunde“ und für die „Arbeiter-Zeitung“ verfassen und veröffentlichen konnte: Jagd nach Welle X sowie Die vierzehn Nothelfer. Blickt man freilich auf ihre vielfältige publizistisch-literarische Tätigkeit seit den 1920er Jahren zurück, wird man mit Erstaunen eine (auch heute noch wenig gekannte, unter ihrem Wert gehandelte) Autorin ausmachen, die z.T. auch von ihren Übersetzungsarbeiten her (v.a. Upton Sinclair betreffend) mit den damals innovativen wie umstrittenen Formen der Reportage, des Fortsetzungs- und Unterhaltungsromans durchaus vertraut sowie publikumsstrategisch Texte anzulegen imstande war (z.B. Märchen für Kinder und Erwachsene; Autobiographie und politisches Manifest).

Die zuvor erwähnten Fortsetzungsromane, ergänzt um den 1939 in der „Pariser Tageszeitung“ zunächst unvollständig, dann 1953 in der „Frankfurter Rundschau“ in leicht überarbeiteter Form abgedruckten Text Zwölf Gäste (bzw. 13 Gäste auf Schloß Monroy) liegen nun im Band 5 der Reihe Exil Dokumente vor, zu dem Deborah Vietor-Engländer das Vorwort verfaßt hat. Sie sind nun ebenso wie die meisten der Erzählungen und Feuilletons des Bandes Nebenglück. Ausgewählte Erzählungen und Feuilletons aus dem Exil erstmals für interessierte LeserInnen sowie für die Forschung zugänglich.

Im Spektrum des Gesamtwerkes sind die drei Fortsetzungsromane bislang kaum beachtet worden, zu Unrecht, wie man behaupten darf. Bedient sich der „Jagd“-Text zwar durchaus gängiger Techniken hinsichtlich seiner detektorischen Verfahren im Zuge der Aufdeckung eines Mordkomplotts (Recherche, Zufall) so deuten das Figurenensemble und mit ihm die sozialen Referenzen doch an, daß Zur Mühlen mehr als einen bloß unterhaltsam-spannenden Text im Sinn hatte.

Ein bereits älterer Pfarrer entdeckt z.B. über das Hören des Radios, Medium des technologisch-sozialen Wandels um 1930, daß ein vertrauter Produktionszyklus, nämlich jener rund um das Getreide, auch eine abgründigere Dimension haben kann und zwar als Spekulationsobjekt an der Börse, als potentielles Motiv für Verbrechen (S. 53f.). Wenn von der ‚mondänen‘ Welt die Rede ist, so führt uns die Autorin zugleich deren Leere und Verlogenheit vor und kontrastiert die luxuriösen Villen mit den düsteren Hinterhöfen.

Der Blick auf die sozialen Verhältnisse, auf das unter der Oberfläche Brodelnde spitzt sich vor allem im Nothelfer-Roman zu, der aus einer kaleidoskop-reportageartigen Milieuskizze zu Beginn über einen Mordfall hin zu einem eindrucksvollen sozial- und gesellschaftsanalytischen Panorama alle Vorzüge eines kritisch auf die Zeit und auf die mentalen Dispositiva im Vorfeld des Nationalsozialismus reflektierenden Textes versammelt. Während auf der einen Seite ein Schriftsteller, ein Maler, eine Schauspielerin mit ihren Arbeiten / Potentialen auf Ablehnung stoßen, weil sie nicht den Zeitgeschmack verkörpern, keine Nachfrage nach ihrer Kunst besteht und ein Gasthaus (mit dem titelgebenden Namen) durch Fälligstellung eines Kredits vor der Schließung und eine Reihe von Personen dadurch vor dem existentiellen Absturz stehen, führt uns Zur Mühlen kontrastiv in einen großbürgerlich-aristokratischen Kreis, deren vorwiegend weibliche Protagonistinnen angestrengt und exaltiert nach den effektvollsten, gerade aktuellen Trends der Zeit haschen und, weil auch als schreibende Dilettantinnen tätig, auf der Suche nach kräftigen Sujets und erfolgsträchtigen Geschichten sind.

Über den Schriftsteller Martin Sichel, dessen abgelehnter Text unverkennbar an eigene Erfahrungen der Autorin 1932/33 erinnert, an die Aufforderung durch ihren letzten deutschen Verlag, doch „aufbauende Werke“ (S. 139) vorzulegen, kommen die beiden einander so fremden sozialen Kreise plötzlich in unmittelbare Berührung. Als zündende, beiden Seiten Vorteile versprechende Idee wird das Gasthaus als Unterwelt-Drehscheibe, als „Menagerie von gefährlichen Leuten“ (S. 157) aufgemöbelt, die den müden Damen nicht nur Stoff für ihre Romanprojekte liefern, sondern vor allem ihre Reizpegel stimulieren soll.

In Anspielung an Ferdinand Bruckners Stück Krankheit der Jugend, das auch zitiert wird, will Zur Mühlen die Krankheit von Deklassierten, die Fäulnis großbürgerlicher Fassaden gegen die Vitalität der realen Verlierer, d.h. der kleinen Leute, engführen und bloßlegen. Und dies gelingt ihr in diesem Text, der sprachlich von einer dynamischen Frische, Eleganz und sarkastischen Ironie geprägt ist, die an die frühen Roman-Reportagen von Joseph Roth erinnert.

Ein Verbrechen passiert denn auch, freilich im Kreis der feinen Gesellschaft und durch den Repräsentanten ihrer Ordnung, einen Rechtsanwalt, der zugleich die groteske, spießerhafte Übersteigerung des korrekten Deutschen verkörpert. In den zwangsläufig sich ergebenden Gesprächen zwischen den Karikaturen der feinen Welt und jenen perfekt mitspielenden kleinen Figuren arbeitet die Autorin unaufdringlich und doch unübersehbar brennende Fragen der Zeit ein: den Aufstieg des Nationalsozialismus und der Verkennung dieser Gefahr einerseits, den allseits salonfähigen Antisemitismus andrerseits, den z.B. der eloquente, arbeitslose jüdische Handelsreisende Rudolf K. Meyer (er fingiert den Hochstapler) permanent am eigenen Leib erfährt, ferner die vorsätzlich korrupte Kapitallandschaft oder die doppelbödige Anfälligkeit der sogenannten Eliten für Erfahrungen am Rande der Kriminalität, die sie sonst wortreich und moralisch verwerfen (Prostitution, Kokain, Hehlerei etc.).

Der Mord an der Society-Lady Rita, ein „verlorener Mensch“ (S. 198), eine Deklassierte, die sich als geborene Gräfin mit einem Bürgerlichen eingelassen hatte, zwingt die feinen Damen, der Wirklichkeit in die Augen zu sehen, starre Schablonen ihrer Lebenspraxis zu überdenken, was in eine fast schon rührselige Annäherung an die ebenfalls unfreiwilligen Helden (dem Spürsinn Meyers und nicht der Polizei gelingt es denn auch, den Mörder zu überführen!) mündet, denen es sukzessive gelingt, Anerkennung (auch erotische) zu finden und aus eigener Kraft aus ihrer sozialen Misere aufzusteigen.

Stilistisch brillant und konzentriert, den jeweiligen Situationen angepaßt und zugleich hintergründiger auch dort, wo sich ein aufklärerischer Gestus einzumengen droht (z.B. über Menschen als „vergeudetes Material“ 205; über individuellen und gesellschaftlichen Mord; S. 235) gelingt es Zur Mühlen, die Form des Kriminalromans auszureizen für ein Panorama einer Welt, die am Rande des Abgrunds steht und sich darüber nur im Ansatz im Klaren zu sein scheint.

Einen Balanceakt an den Rändern führt uns auch der dritte Roman, Zwölf Gäste, vor. Aus vorgeblicher Langeweile, hinter der vor allem Machtkalkül steckt, lädt ein amerikanischer Millionär, der einst die Wallstreet in Atem gehalten hatte, via Annoncen zwölf Gäste für vier Wochen auf sein Schloß an der französischen Riviera ein, freilich unter der Bedingung, auf ihre Namen, ihre Identität zu verzichten, um als „Nummern“ wechselseitiges Studienobjekt zu sein. Was zunächst als Gesellschaftsspiel anläuft, verliert rasch an Reiz und kippt in eine lähmend-aggressive Stimmung, in ein Ausgeliefertsein, dem die Gäste kaum standzuhalten vermögen. Mysteriöse Vorfälle während eines Maskenballs, Warnungen, irritierende Anspielungen, das Verschwinden des Sekretärs mit der Namensliste, der Diebstahl der Yacht und einiger Preziosen, mit der zwei Gäste fliehen und schließlich die Geiselnahme aller Anwesenden durch „Nummer zwölf“, der zuvor neunzehn Jahre in Haft verbracht hatte und sich am Millionär rächen will, spitzen die Lage dramatisch zu.

Nur der Klugheit eines Kindes, das sich als Enkel des Schloßherrn entpuppen wird, ist es zu verdanken, daß ein Ausweg mit überraschenden, teils tragischen, teils glücklichen Lösungen gefunden werden kann. Und einer kathartischen, wichtigen Einsicht: daß der Name mehr als das „letzte Stück Persönlichkeit“ (289) ist, daß „der Mensch die Nummer durchbricht“ (S. 430), womit dieser Text auch eine der tiefsten Problemstellungen des Exils reflektiert: die inhumane Kondition des Heimat- und Identitätsverlustes.

Den HerausgeberInnen ist zu danken, daß mit diesen drei Romanen eine Lücke im Spektrum noch immer wenig bekannter Exiltexte geschlossen werden konnte, dem Verlag, daß er diese Reihe betreut und ermöglicht. Die Autorin und die LeserInnen hätten freilich eine gebundene Ausgabe, zumal um diesen Verkaufspreis, redlich verdient.

Vierzehn Nothelfer und andere Romane aus dem Exil.
Herausgegeben von Deborah J. Vietor-Engländer, Eckart Früh und Ursula Seeber.
Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien: Peter Lang Group, 2002.
436 Seiten, broschiert.
ISBN 3-906768-25-2.

Rezension vom 21.10.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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