Mit dem kryptischen Titel Visuelle Beschwörung, autonomes Kunstwerk, Ideograph bekundet Hilde Zaloscer in der Einleitung eine herausfordernde Intention. „Was ist Kunst?“ fragt sie und stellt mit ruhiger Selbstverständlichkeit die drei zentralen Fragen nach dem Verständnis von Ursprung, Wesen und Sinn derselben. Damit betritt die Autorin Grenzland. Der Wunschtraum nach einer Methode, „durch die man sich einem Kunstwerk ohne persönlich gefärbte Erwartungen und Forderungen nähern kann“ ist ein kaum erfüllbares Desideratum der Kunstwissenschaft selbst.
Beim Versuch, eine dem Kunstwerk immanente Struktur herauszuarbeiten, die eine objektivere „Betrachtung“ des Wesens eines Artefakts ermöglicht, bedient sich Hilde Zaloscer vorwiegend sprachwissenschaftlicher Methoden.
Die Autorin konstatiert drei Phasen in der geschichtlichen Entwicklung des Kunstwerks. Im ersten Abschnitt sieht sie das magische Denken als konstitutiv. Ein erster Paradigmenwechsel tritt mit der Vorherrschaft der Ratio im entwicklungsgeschichtlichen Verlauf unserer Gesellschaft ein. Zaloscer spricht von einer „Entfunktionalisierung“ und von der Freiheit des „Kunstwerkes par exellence“. Es ist die Zeit ab 1400. Von seinen Funktionen befreit, gewinnt das Artefakt einen bedeutungsautonomen Status. Um 1900 tritt ein erneuter Paradigmenwechsel ein. Mit der Infragestellung der Alleingültigkeit der Ratio, empirischer Wissenschaft und zivilisatorischen Errungenschaften wird Raum frei für einen neuen „Irrationalismus“. Das Artefakt ist refunktionalisiert. Im Gegensatz zur rituell bedingten Beschwörung der ersten Phase haben wir es jetzt mit Ideographen zu tun.
Über die Untersuchung der Werke von den Anfängen bis in unsere Zeit gelangt die Autorin zu inhärenten Wesensbestimmungen, die jenseits stilistischer, ästhetischer Kategorien liegen.
Kurzbiografie
Hilde Zaloscer, Kunsthistorikerin und Publizistin, geboren am 15. Juni 1903 im altösterreichischen Banja Luka, wuchs in Wien auf, wo sie studierte und als Kunstjournalistin arbeitete. Eine Universitätskarriere blieb ihr als Jüdin in Österreich versagt. 1936 emigrierte sie nach Ägypten und lehrte 1946 bis 1968 an der Universität von Alexandria Kunstgeschichte, später Lehrtätigkeit in Kanada. Seit Anfang der siebziger Jahre lebt die mehrfach ausgezeichnete Expertin für koptische Kunst und Kulturpublizistin wieder in Wien.
Ausgewählte Werke
- Porträts aus dem Wüstensand (1961)
- Die Kunst im christlichen Ägypten (1964)
- Der Schrei (1985)
- Eine Heimkehr gibt es nicht (Autobiografie, 1988)
- Zur Genese der koptischen Kunst (1991)
- Visuelle Beschwörung, autonomes Kunstwerk, Ideograph (1997)
Anläßlich des 95. Geburtstags der Autorin werden im Literaturhaus (Obere Bibliothek) in einer Vitrinenausstellung Bücher, Fotos, Handschriften und Lebensdokumente aus der Sammlung Zaloscer der Österreichischen Exilbibliothek gezeigt.