Andrea Wolfmayrs Roman Vom Leben und Sterben des Herrn Vattern, Bauer, Handwerker und Graf ist ein ebenso beklemmendes wie befreiendes Buch. Beklemmend, weil die alltägliche Ausweglosigkeit eines Lebens mit dem Sterben nun einmal beängstigend ist, befreiend, weil die Ich-Erzählerin mit mutiger Schonungslosigkeit ausspricht, wie es ihr damit geht und wie es sich anfühlt. Das Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren“ nagt am Gewissen … es gibt Momente, in denen das einfach zu viel verlangt ist.
Es ist nicht ganz einfach mit dem Vater: er ist dement und inkontinent, dabei herrisch und stur, nimmt selbstverständlich, was von seiner Tochter kommt und verteilt mit vollen Händen Trinkgelder, Wein und vieles mehr an Außenstehende. In Haus und Garten stellt er allerhand an, ruiniert Pflanzen, vergisst Töpfe auf dem Herd und tut mit Vorliebe das, was er nicht soll. Eng wird es unter diesen Umständen im gemeinsamen Haus. Er braucht Hilfe, Pflege, will nicht alleine sein, gibt aber den Fitten, Selbstständigen, wenn jemand anderer da ist, z.B. der Abgesandte von der Krankenkasse, der die Pflegestufe feststellen soll. Es ist nicht einfach mit dem Vater – es braucht viel Zeit, Geduld und Geld, um das tägliche Dasein zu bewältigen.
Dabei vergeht das eigene Leben, das Leben der Tochter rinnt durch die dürren Finger des alten Mannes, wird unter der Verantwortung und unter Schuldgefühlen zerquetscht. Die Emotionen kochen hoch und flauen ab, mal Liebe, mal Hass, mal Resignation. Der Zahn der Lebenszeit und die vielen kleinen Zähne des Alltags nagen an der Vater-Tochter-Beziehung. Jenseits von Pathos und Verlogenheit schreibt sich die Ich-Erzählerin durch zu der Klarheit, dass sie darauf wartet, dass er stirbt, dass sie es sich wünscht. Für ihn, damit er nicht mehr leiden muss, aber auch für sich, damit sie frei ist, endlich frei um ihr eigenes Leben zu führen.
Es geht nicht nur um das Leben mit einem Alterskranken, es geht auch um Emanzipation, um ein Sich-Befreien vom ewigen Tochter-Sein, der kindlichen Unterordnung unter die Generation davor und der weiblichen Unterordnung unter die Wünsche der Männer. Die Ich-Erzählerin ist Anfang Fünfzig – als ihr Vater in diesem Alter war, hatte er das Sagen. Jetzt ist sie an der Reihe, er sollte sich mit dem Ausgedinge im unteren Stockwerk zufrieden geben und sie (und ihren Mann) schalten und walten lassen. Er tut das aber nicht. Aus Sturheit und Machtwillen oder weil ihm ohnehin nicht mehr klar ist, was er macht … wer kann das wissen?
Andrea Wolfmayr zeichnet ein bewegtes und bewegendes Bild vom Sterben – und von den Überlebenden, die mit hineingezogen werden in die immer weniger nachvollziehbare Welt eines Dementen. Die mitleiden und sich über viele kleine Dinge ärgern, die den Alltag mühsam machen, die sich auftürmen zu einem unüberwindlichen Berg aus Widrigkeiten. Dazwischen Liebe, Hass und Schuldgefühle. Das Buch ist einfühlsam und hart zugleich, zwischen den Seiten müffelt es nach Urin und ungewaschen Socken, nach altem Fett und ungelüfteten Zimmern. Und doch kann man nicht aufhören zu lesen. Man kann sich schon von Anfang an denken, wie es weitergehen und wie es enden wird. Und doch kann man nicht aufhören zu lesen. Wahrscheinlich, weil es so offen und wahrhaftig müffelt wie selten wo. Erfrischend authentisch.