So wie ein gelungener erster Satz mit wohlkalkulierten special effects ist auch die gelungene Namensgebung für eine literarische Figur ein traditionelles und genuines PR-Mittel der Literatur. Gelingen kann sie auf vielfältige Weise. Der Name kann aufgrund seiner auratisch-evokativen Kraft, seines faszinierenden Klangbilds wirken, oder er kann ein hintergründiger bis sprechender Kommentar zum Charakter der Figur sein. Aus Elias Canettis Roman Die Blendung schreibt sich mit dem Bibliotheksbrand auch der Name des Sinologen Peter Kien dem Gedächtnis ein, und Herrn Mittler aus Goethes Wahlverwandtschaften vergißt man nicht leicht, weil er seinem Namen in auffälliger Wiese gerade nicht gerecht wird. Ein besonderer Namenszauberer war Thomas Mann: Adrian Leverkühn, Felix Krull oder Tonio Kröger, der den Grundkonflikt der Novelle schon im Namen verankert mitträgt, sind einmalige Würfe. Das hätte die boomende Branding-Branche unserer Tage in ihrer rastlosen Suche nach erfolgsträchtigen Markennamen nicht besser gekonnt.
Iris Denneler unternimmt in dem vorgelegten Band den Versuch, die sprachphilosophische bis magische Dimension des Benennens anhand exemplarischer Textanalysen mit literaturwissenschaftlichen Fragestellungen zu verbinden. Die Geste des Geschichten-Erfindens impliziert immer das Erfinden von Namen, auch wenn die Zeit der vertrauensvollen Namensgebung lange schon vorbei ist. Im Zentrum steht dabei die Suche nach den Unschärfezonen von Ich-Identitäten und Rollenspielen. Bei Ingeborg Bachmanns Malina etwa ist die komplexe Identitäts- und Geschlechterrollenproblematik schon in den Namen der Titelfigur eingeschrieben. Für Autoren wie Peter Bichsel und Max Frisch fungierte das „ich erfinde mir einen Namen“ immer wieder als Motor ihres literarischen Erzählens. Das bodenlose Spiel der Gantenbein-Erzählungen ist eine der konsequentesten Inszenierungen einer Lebensgeschichte als „Palimpsest aus präfigurierten Geschichten“ (S. 51).
Sind die bisher genannten Autoren eher vertraute Beispiele für die Krise der Identitätspräsentation in der Gegenwart, zieht Iris Denneler für ihre Untersuchung auch ältere Autoren heran. Bei Gottfried Keller wird das komplexe Spiel mit Namen als allgemeinen Rollenvorgaben und biographische Codes als Werkkonstante – nicht nur im Grünen Heinrich – sichtbar. Heinrich von Kleists Werk zeigt sich so, beginnend von der Familie Schroffenstein, geprägt vom „tödliche Rätsel der Identität“ und der insistenten Frage nach dem Ich-Bewußtsein, das sich hinter dem Namen verbirgt. Anders die Funktion des Spiels mit Namensenthüllung und -verhüllung bei Arthur Schnitzler, wo es für versuchte oder verweigerte Nähe steht, für Herstellung oder Ablehnung von Intimität. Oder Wedekinds „Lulu“, klassisches Spiegelbild männlicher Wünsche und Phantasien, die schon im phonetischen Spiel ihres Namens das Skandalon ihrer literarischen Existenz mit sich trägt. Auch Nabokovs Lolita, diese „Hymne an Vokale und Konsonanten“ gehorcht, wie viele seiner Figurennamen, einer Lautspur, entstanden aus der Leidenschaft ihres Autors für phonetische und phonologische Entdeckungen, wohl auch evoziert durch den erzwungenen Sprachwechsel des Emigranten. Die abschließende Analyse gilt W. G. Sebalds Roman Die Ausgewanderten, in dem das Gedächtnis der Namen die Spur der Erinnerung wachhält. Daß darüber hinaus eine beeindruckende Fülle weiterer Texte in die Arbeit eingeflossen sind, ist der umfangreichen Literaturliste zu entnehmen.