Er gedachte der Vergessenen, der Menschen, die von der Straße leben, der Hofsänger, Kolporteure, Schuhputzer. Lindenbaums Einfühlung stellte der Sentimentalität harten Realismus entgegen, sein Klassenbewußtsein entlarvte das „Mitleid“ des Bürgers: „Und wenn du glaubst, der Mensch ist gut: / Er ist nicht gut, Er tut nur so“; der sozialen Ungerechtigkeit galt seine Erbitterung, den Opfern der Wirtschaftskrise, den Müttern und Kindern sein Mitgefühl. Eine Strophe seines „Wiegenlieds“ (1933): „Hätt‘ ich dich abgetrieben, / Nicht in die Welt gesetzt, / Wäre dir wohler jetzt, / Hast mal schon Pech.“
Lindenbaum kannte auch sanftere, weniger traurige Töne, sie klangen meist aus in Ernüchterung; er schrieb von Kindern und von Jugendlichen, die vom Leben nichts als eine „banale Geschichte“ zu erwarten hatten.
Nach dem März 1938 erwarteten die Wiener Juden nur Verfolgung und Tod; Lindenbaum, Dichter der Verlassenen, wurde auch ihr Dichter. Einleitung und Bibliographie dokumentieren die Rettung dieser nur mündlich überlieferten Lyrik einer Chronologie des Terrors. Auf „Die gelben Fleckerln“ (eine selbstironische, teils jiddische Kontrafaktur auf den Volkschlager von den Schinkenfleckerln), folgt die Deportation – und die Reaktion der „Mitbürger“: „Was ist los? Nichts / Ein paar Juden fahren in die weite Welt“ (1940).
1943 wurden Walter Lindenbaum, seine Frau und seine Tochter nach Theresienstadt verschleppt. Hier bewies er den Widerstandswillen, der in den frühen Texten oft vom Proletarierelend überschattet gewesen war. Er gründete eine Kabarettgruppe und erleichterte mit Unterhaltung das Los seiner Leidensgenossen. „In einem kleinen Cafe in Hernals“ hieß ein Volksschlager der dreißiger Jahre (im Film „Schindlers Liste“ spielen es die Häftlinge zum Tanzvergnügen der SS); was die Wiener in Theresienstadt bei diesem Lied empfinden mochten, gab Lindenbaun in einem wehmütigen Gedicht zur selben Melodie wieder. In anderen Gedichten entlarvte er den Zynismus der Machthaber, die sich brüsteten: „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt!“ Das „Geschenk“ war ein Ghetto der Verzweiflung und des Hungers. Lindenbaums „Lied von Theresienstadt“ (ihm ist der Titel des Buches entnommen) sprach die Wirklichkeit aus, in die die Häftlingen nach der kurzen Entpannung im Kabarett zurückkehrten:
Wir sind hier 40 000 Juden,
Es waren viel mehr an diesem Ort,
Und die wir nicht nach Polen verluden,
Die trugen wir in Särgen fort.
Trotzdem war es ein Lied der Gemeinschaft, der Solidarität, und schloß mit der Hoffnung, „daß es noch einmal anders wird,“ wenn auch nur für die der Hölle Entronnenen.
Lindenbaum gehörte nicht zu ihnen. 1944 wurde die Familie nach Auschwitz „verladen“. Frau und Tochter wurden in Auschwitz Birkenau ermordet. Lindenbaum starb nach einem qualvollen Transport im Februar 1945 im Buchenwald-Außenlager Ohrdruf.
Die beiden Herausgeber bemühen sich seit Jahrzehnten, an Autoren zu erinnern, die von den Nazis geächtet und von der Nachwelt vergessen wurden. Ihnen ist es zu danken, daß Walter Lindenbaum trotz des schmalen Werkes, das ihm zu schreiben gegönnt war, in der österreichischen Literatur seinen Platz finden wird als ein Dichter derer, „die ohne Stimme sind“, als Zeuge der Barbarei, die ihn umbringen, seine erschütternden Aussagen aber nicht vernichten konnte.
Horst Jarkas Besprechung von Walter Lindenbaums Rezension von Von Sehnsucht wird man hier nicht fett ist bereits in der Zeitschrift „Modern Austrian Literature“ erschienen.