Nach einer frühen, kurzen Ehe lebt sie wieder bei ihrer großbürgerlichen jüdischen Familie – ihr Vater Ernst Benedikt ist Herausgeber und Chefredakteur der Neuen Freien Presse – und ist fasziniert von Canetti, der mit seiner Frau Veza schräg gegenüber vom Haus der Benedikts in der Grinzinger Himmelstraße wohnt und soeben seinen ersten Roman Die Blendung veröffentlicht hat. Er fordert sie auf, jeden Tag zu schreiben und lektoriert die Texte der „geborenen Erzähler[in]“ gewissenhaft, auch nach ihrer Flucht vor den Nazis ins Londoner Exil. Aus dem Schreibtutorium entsteht bald eine Liebesbeziehung, die Veza Canetti toleriert und sogar fördert.
Unter dem Pseudonym Anna Sebastian veröffentlicht Friedl Benedikt in England drei Romane, doch ihre literarischen Tagebücher, die sich in Canettis privatem Nachlass befanden und nun nach einer 30-jährigen Sperre erstmals veröffentlicht wurden, sind für ihn „noch vor ihren Romanen das Beste, was sie geschrieben hat“ (S. 5). Es sind Aufzeichnungen von Begegnungen mit Freunden und Fremden, Szenen auf der Straße und in Pubs, Betrachtungen über die Liebe, skizzierte Buchideen und kurze Erzählungen. Die erhaltenen Fragmente stammen aus England, wo Friedl 1939 bei Verwandten ihrer Mutter in London, Oxford und Tichborne (Hampshire) unterkommt, aus Schweden, das ab 1947 ihr zweites Exilland wird, und von ihren Reisen durch das Europa der Nachkriegszeit. Das letzte Heft enthält Notizen aus dem American Hospital in Paris, wo Friedl Benedikt am 3. April 1953 in ihrem 37. Lebensjahr an einer Krebserkrankung stirbt.
1938, im Jahr des österreichischen „Anschlusses“ an Nazideutschland, besucht Friedl eine Sprachschule in Paris. Nachdem ihr Vater während des Novemberpogroms verschleppt und gefoltert wird und ihre ganze Familie das Land verlassen muss, folgt sie den ebenfalls emigrierten Canettis nach England und bleibt in ständigem Kontakt mit ihnen. Sie wohnt erst in London im Haus ihrer Tante Heddie, die mit dem wohlhabenden Ägyptologen Alan Gardiner verheiratet ist, und verbringt den Sommer 1939 mit ihnen in einem Landhaus in der kleinen Ortschaft Tichborne. Dieses ehrwürdige Haus und seine illustren Gäste schildert Friedl ihrem „Ilja“, wie sie Canetti nennt, so heiter und temperamentvoll, dass man den tragischen Hintergrund ihres Aufenthalts beinahe vergessen könnte:
„Ilja, aus mir ist nun fast ein Schloßfräulein geworden, aus meinem Fenster blicke ich auf grüne, geschorene Rasen und einen Teich, da schwimmen Enten und Schwäne, und Felder und Wiesen – so weit kann man gar nicht sehen. Das gehört alles der Familie Tichborne, das ist ein uraltes Geschlecht, aber augenblicklich ohne Geld, und so bewohnen Gardiners das Haus, das recht häßlich ist, das alte wurde nämlich zur Zeit der napoleonischen Kriege niedergerissen, und das jetzige besteht nur aus Gängen mit unzählbaren Türen, und Heddie hat auf jede Türe den Namen des Bewohners geklebt. Nur in das Speisezimmer wagt man kaum in hellen Kleidern zu kommen, denn an der Wand hängen die Ahnen der Familie.“ (S. 9f.)
Noch herrscht kein Krieg und bei den Gardiners wird „hauptsächlich viel und gut gegessen, Tennis und Croquet gespielt und nach dem Nachtmahl auf Oscar Wildes Art gesprochen, geblödelt, gespielt“ (S. 10). Friedl berichtet von einem Spaziergang mit Cerny, laut Personenregister ein tschechischer Ägyptologe, der mit Alan Gardiner zusammenarbeitet. Weitere Gäste werden kurz und bildhaft skizziert, Olaf etwa, ein alter Freund Heddies, der Kinderbücher schreibt, müde Augen hat, ewig Witze macht und „mit falschen Zähnen lächelt“, oder Odette, eine arme Freundin, die „ihre grauen Haare mit einer schwarzen Masche zusammenbindet, geschminkt ist und ganz dünn und verwickelt französische Worte in ihr Englisch streut“, und dann Mr. und Mrs. Swan, beide „spitz und grauhaarig“ (S. 10 f.). Ihren ausgeprägten Sinn für Komik zeigt Friedl bei der wörtlichen Wiedergabe eines Heiratsantrages, den ihr Cerny am Abend vor seiner Abreise durch die geschlossene Verbindungstür zwischen ihren Schlafzimmern macht. (S. 16) Diese Szene bleibt nicht die einzige, in der Friedl männliche Avancen souverän abwehrt. Sie erwähnt deshalb explizit, dass ihr Gastgeber Alan Gardiner sehr nett zu ihr ist, „aber gar nicht zudringlich, sondern wirklich freundlich“.
Weniger familiär, jedoch umso prominenter lebt Friedl im Kriegsjahr 1942 im Haus ihrer Cousine Margaret Gardiner im Londoner Stadtteil Hampstead. Hier geht die Kunst- und Literaturszene ein und aus und Friedl knüpft wichtige Kontakte, etwa zu den Dichter:innen Stevie Smith und Stephen Spender und in der Folge zu ihrem britischen Verleger Jonathan Cape. Während Margaret mit ihrem kleinen Sohn fern von den Luftangriffen auf dem Land lebt, hütet Friedl das volle Haus mit seinen teils sonderbaren Bewohner:innen und protokolliert ihre Erlebnisse voller Eifer für Ilja. Darüber hinaus hat sie jedoch ein ungeheures Bedürfnis, aus dieser Zeit „etwas ordentlich Anständiges zu machen, und besonders, erfolgreich zu sein“ (S. 61). Keinesfalls will Friedl nach dem Krieg mit leeren Händen nach Wien zurückkehren, also übersetzt sie ihren ersten, noch auf Deutsch verfassten Roman Let Thy Moon Arise ins Englische.
Gleichzeitig jobbt sie „beim Hirschtritt“, einem aus Wien stammenden Zahnarzt, und protokolliert ihre abendlichen Begegnungen im „kleinen Glasshouse“, wo sie mit einfachen Leuten spricht, denen sie sonst nie begegnen würde. Da ist etwa das „kleine schottische Mädchen“, eine Kellnerin, oder Martha, die deutsche Jüdin, die von ihrem eigenen Mann in ein KZ gesteckt wurde. Friedl skizziert die völlig fremden Menschen mindestens ebenso lebendig und zugewandt wie ihre Hausgemeinschaft, nur der dicke alte Ire, der ein nettes Mädchen zum Heiraten sucht, oder der misogyne Aphoristiker Adolf Blum lassen ihren freundlichen Erzählton ins Spöttische oder auch Boshafte kippen. (S. 83-91)
Immer schwieriger wird im Lauf der Kriegsjahre die Liebes- und Arbeitsbeziehung zu Canetti. Mehrfach versucht Friedl, sich von ihm zu emanzipieren, sie möchte ihm – trotz aller Dankbarkeit – endlich auf Augenhöhe gegenübersitzen. 1944 scheint es so weit zu sein: Im Frühjahr und Herbst erscheinen ihre ersten beiden Romane im renommierten Verlag Jonathan Cape und werden von der Kritik wohlwollend aufgenommen. Beide Bücher sind Canetti („Orion“) gewidmet, doch er selbst hat zu diesem Zeitpunkt noch nichts auf Englisch publiziert und es ist die kommunikative und bestens vernetzte Friedl, die ihm Zugang zur intellektuellen Szene Londons verschafft (S. 305). Eine Schieflage, die durchaus auch die Arbeitsteilung des Ehepaares Canetti in Frage stellt, denn während Elias mit Hingabe seine Schülerin fördert, gibt Veza ihre schriftstellerische Arbeit auf, um ihrem Mann mit Lohnarbeit den Rücken freizuhalten.
Friedls Tagebuch liest sich nun erst recht wie ein Who-is-who der Londoner Kulturszene, sie stürzt sich mit dem ihr eigenen „Menschenhunger“ (S. 258) in ein freies und selbstbestimmtes Leben, zieht mit dem Schriftsteller und Bohemien Julian MacLaren-Ross durch die Pubs und lernt nebenbei den walisischen Lyriker und Erzähler Dylan Thomas kennen. Es lohnt sich, von Anfang an die Anmerkungen und das Personenregister hinten im Buch parallel zum Haupttext zu lesen, um all die Mitbewohner:innen, Freunde und Bekanntschaften Friedls, die oft nur mit Vornamen oder Spitznamen erwähnt sind, in ihrem gesellschaftlichen Kontext zu sehen.
Ende 1946 reist Friedl nach einem schweren Zerwürfnis mit Canetti nach Stockholm, wo ihre Eltern und ihre jüngere Schwester Susanne leben. Ihr Tagebuch führt sie nur noch unregelmäßig, sie arbeitet jedoch an ihrem dritten, experimentellen Roman The Dreams, den sie bereits in England begonnen hat. Erst im Frühjahr 1948 fährt sie mit dem Zug durch die „Dunkelheit Deutschlands“ (S. 239) nach Paris, um Canetti wiederzusehen, doch die Begegnung lässt sie einsam zurück: „Warum ist es so, daß ich wegwerfe, was ich habe, und es dann ewig suche.“ (S. 242). Im Sommer 1950 besucht Friedl Benedikt zum ersten Mal wieder Österreich. Nach Ferientagen in Lunz am See kommt sie nach Wien, wo sie bei ihrer Schwester Ilse in der Heumühlgasse wohnt. Sie wandert durch die Weinberge, besucht den Bildhauer W. (Fritz Wotruba) und das Volksstimme-Fest, in ihren Augen mehr ein „billiges Sonntagsvergnügen“ (S. 278) als eine politische Veranstaltung, bis die Lautsprecher zu plärren beginnen und Friedl meint, die Stimme Adolf Hitlers zu hören:
„Es war der gleiche Tonfall, die gleiche obsessive Rhetorik, die gleichen anklägerischen Formulierungen. Ich versuchte erst gar nicht, dem Gesagten zu folgen. Ich lauschte gebannt der Stimme dieses eher unbedeutenden Kommunisten. Sie hob und senkte sich in dem bekannten verrückten Rhythmus. Ich fragte meine Freunde, ob sie es auch merkten. Aber sie merkten nichts.“ (S. 278)
Wie eine Einbrecherin schleicht die erfolgreiche Autorin, die ebenso wenig zur Rückkehr nach Österreich eingeladen wurde wie fast alle Emigrant:innen, eines Abends in die immer noch arisierte Villa ihrer Familie in Grinzing, doch der ersehnte Ort ihrer Kindheit wirkt so fremd und abweisend wie die ganze Stadt, die Friedl kurz danach für immer verlässt. Im Jahr darauf folgt die endgültige Katastrophe, eine Krebserkrankung, die zuerst in Kopenhagen, dann im modernen American Hospital in Neuilly bei Paris erfolglos behandelt wird. Friedl Benedikt stirbt am 03. April 1953 in ihrem 37 Lebensjahr.
Friedl Benedikts Tagebuchfragmente und Notizen sind aus vielerlei Gründen interessant und lesenswert. In erster Linie vermitteln sie spannende Einblicke in das Leben und die künstlerische Entwicklung einer talentierten Autorin, die trotz Krieg und Vertreibung zielstrebig ihren Traum gelebt hat. Dank der ergänzenden Texte und Kommentare der Herausgeber:innen Fanny Esterházy und Ernst Strouhal funktioniert der Band jedoch ebenso als Mosaikstein zur Canetti-Forschung sowie als persönliches Dokument zur europäischen Literatur- und Zeitgeschichte. Ernst Strouhal, ein Neffe Friedl Benedikts, kann dabei u. a. auf seinen 2022 ebenfalls bei Zsolnay erschienenen Band Vier Schwestern. Fernes Wien, fremde Welt zurückgreifen, in dem er bereits die Schicksale seiner Mutter und seiner drei Tanten in der Emigration anhand ihres Briefwechsels dokumentiert hat.
Sabine Schuster, Studium der Germanistik und Publizistik an der Universität Wien, Abschluss 1992, von 2001 bis 2023 Redakteurin des Online-Buchmagazins im Literaturhaus Wien.