#Prosa

Warum wurden die Stanislaws erschossen

Martin Pollack

// Rezension von Peter Landerl

Martin Pollack, im letzten Jahr mit dem Toleranzpreis des österreichischen Buchhandels ausgezeichnet, hat sein Schreiben den zwei Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts gewidmet: dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus. Der „Meister der journalistischen Literatur und des literarischen Journalismus“, wie Henryk M. Broder ihn bezeichnete, schreibt in seinem neuen Reportagenbuch von den Umwälzungsprozessen in Osteuropa, die dem Kommunismus folgten und über das allgegenwärtige Verdrängen und Vergessen, das sich dem Nationalsozialismus anschloss, in Österreich, aber auch in anderen Ländern.

„Ein Nazi. Die Bedeutung dieses Wortes war mir damals nicht klar, ich wusste nur, dass wir alle Nazis waren, ich vermutlich mit eingeschlossen. Wir waren Nazis und Opfer.“ Pollack wächst in einer Familie von überzeugten Nationalsozialisten auf. Die Gleichung Nazi=Opfer bestimmt sein Kindheitsdenken. Später wird ihm klar, dass diese Gleichung nicht stimmt und er studiert – aus bewusstem oder unbewusstem Protest und gegen den Willen seiner Familie – Slawistik. Er verbringt einige Zeit in Polen, arbeitet als Übersetzer, ist Redakteur des „Wiener Tagebuchs“ und berichtet später für den „Spiegel“ aus Osteuropa.

Sein neues Buch „Wer hat die Stanislaws erschossen?“ versammelt etwa zwanzig Reportagen aus den letzten 25 Jahren. Die ältesten erschienen Anfang der 1980er Jahre in Hans Magnus Enzensbergers Zeitschrift „TransAtlantik“, viele in den 1990er Jahren als „Kulturbriefe“ in der von Karl Markus Gauß herausgegebenen Salzburger Literaturzeitschrift „Literatur und Kritik“, die sich seit Jahren verdienstvoll (und ohne verklärende Habsburgnostalgie) um die Vermittlung mittel- und osteuropäischer Themen bemüht. Etwa ein Viertel der Texte sind neue, unveröffentlichte Beiträge.

Im Vorwort schreibt Pollack: „Wenn ich es unternehme, frühe Arbeiten neben neue, hier erstmals publizierte Texte zu stellen, dann in der Absicht, die Zeit des Übergangs, der Transformation ins Gedächtnis zu rufen: Einerseits ist sie bereits Geschichte, Vergangenheit, mit der sich Historiker befassen, andererseits ist sie noch lange nicht abgeschlossen und wirkt weiter. Die diese Übergangszeit begleitenden Ängste und Unsicherheiten sind heute vielleicht an den Rand gedrückt, werden zunehmend aus dem Blickfeld verdrängt, nicht zuletzt durch die neue Erfolgspropaganda, die sich am hohen Wachstumstempo der ehemals kommunistischen Volkswirtschaften Mittel- und Osteuropas selber berauscht.“

Gerade die Historizität der Texte macht ihren Reiz aus. So etwa klagt ein polnischer Intellektueller bereits im Jahre 1990 über den Westen: „So lange ihr euch noch nicht um uns gekümmert habt, war alles halb so schlimm; doch eure Küsse sind, mit Verlaub, unerträglich. Wir bekommen eure getragenen Kleider und müssen dafür noch dankbar sein.“ Der Sprachwissenschaftler klagt über das Leid der Intellektuellen, die im Kommunismus zwar zensuriert und schikaniert wurden, aber doch ein Leben als Intellektuelle führen konnten, während sie nach der Ostöffnung verarmt wären und nicht mehr gehört würden, weil nur mehr die Wirtschaft, Karriere und Geld zählten.

In der Reportage „Die neuen Herren von Danzig“, 1995 erstmals erschienen, schreibt Pollack: „Wenn man heute durch Osteuropa fährt, trifft man überall diese jungen, muskulösen Männer in glänzenden Freizeitanzügen, die in Hotellobbys und teuren Restaurants undurchsichtigen Geschäften nachgehen, schwere westliche Wagen fahren und anscheinend über jede Menge Geld verfügen. Diese Mutanten, eine seltsame Kreuzung aus Bodybuildern und Businessmen, gehören zu den Gewinnern der Wende.“ Mafiöse Strukturen, schamlose Bereicherungen durch Privatisierung von Staatsvermögen machen wenige reich und viele arm. Wissenschaftler, Autoren, Übersetzer, die osteuropäische Intelligenz, wird vom Turbokapitalismus innerhalb kürzester Zeit marginalisiert: Kapitalistisches, nicht kritisches Denken ist gefragt.

Pollack berichtet in seinen überaus lesenswerten Reportagen auch aus peripheren, aus Europas Bewusstsein verschwundenen Regionen. So macht er sich etwa auf die Suche nach der jüdischen Minderheit in der Ukraine, er berichtet aus dem bulgarischen Russe, aus Galizien und über die Russifizierung in Weißrussland, Europas letzter Diktatur. Pollack sucht Minderheiten auf, gibt Namenlosen einen Namen, er benennt, hält fest und stellt Fragen, die nicht gern beantwortet werden. Wie bei einem Puzzlespiel entsteht so nach und nach ein Bild des mittel- und osteuropäischen Raums (der im Französischen bezeichnenderweise Zentraleuropa genannt wird) und es werden, auch wenn die Reportagen singuläre Bestandsaufnahmen sind, komplexe Transformationsprozesse sichtbar.

Mehrere Texte beschäftigen sich mit Pollacks neuer Heimat, dem Südburgenland. So sind dort kaum mehr Spuren der jüdischen und ungarischen Minderheiten zu finden. Auch die kroatische Minderheit, so in einer Reportage aus dem Jahre 1983, werde durch Ignoranz und Nichtbeachtung buchstäblich totgeschwiegen.

Häufig stehen Personen im Zentrum von Pollacks Aufmerksamkeit: Zeitzeugen, Überlebende, Übriggebliebene. Und oftmals zeigen Pollacks Recherchen keinen Erfolg, weil das Vergessen stärker ist als das Erinnern. In der titelgebenden Reportage „Warum wurden die Stanislaws erschossen?“ versucht Pollack das Schicksal zweier polnischer Zangsarbeiter, die zu Kriegsende in seinem burgenländischen Heimatdorf erschossenen wurden, zu rekonstruieren. Er vermag diese Frage nicht (mehr) zu beantworten. Zu viele Dorfbewohner haben zu lange geschwiegen, als dass sich jemand ihres Schicksals erinnern könnte.

Martin Pollack Warum wurden die Stanislaws erschossen
Reportagen.
Wien: Zsolnay, 2008.
230 S.; geb.
ISBN 978-3-552-05432-5.

Rezension vom 05.03.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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