Mit einem knappen Prolog führt die Autorin in den Roman ein: Die Ich-Erzählerin, Nola, empfindet einen brennenden Schmerz, der sich in ihrem Inneren in ein prächtiges Feuerkleid verwandelt. Was bleibt, ist ein Gefühl von Freiheit. Eindrücklich spielt Caro Reichl damit auf die Figur des Phönix an. Der mythologische Vogel, der am Ende seines Lebenszyklus verbrennt, um aus der Asche wieder neu aufzuerstehen, ist das zentrale Motiv im Roman Was glänzt, verschwindet mit uns. Als Zeichen der Unsterblichkeit und verbindendes Tattoo ziert er Nolas Unterarm sowie den ihrer Schwester Ida und taucht auch sonst immer wieder symbolträchtig auf.
Um besagte Schwester dreht sich auch hauptsächlich Nolas Gedankenwelt. Der Roman ist entlang der erzählten Geschehnisse in drei Kapitel unterteilt: vom Tod über die Trauer bis hin zu ihrer Bewältigung. Monologisch führt uns die erste Szene mitten ins Leben der Protagonistin: Ida, eine der drei Schwestern aus der Familie Nimmerl, liegt im Krankenhaus. „Ich werde heute nach dir sehen.“ (S. 11) – so richtet die Ich-Erzählerin Nola bereits den eröffnenden Gedanken an ihre kranke Schwester, ohne dass diese noch reagiert. Nola empfindet es als ihre Pflicht, so oft wie möglich nach ihrer großen Schwester zu sehen, vor allem auch, weil sich Katrin, die dritte und älteste im Bunde der Nimmerl-Schwestern, diesen unangenehmen Aufgaben lieber entzieht, um stattdessen ihrem Influencerinnen-Dasein nachzugehen. Wenn Nola einmal keine Kraft hat, ihre Schwester in der Klinik zu besuchen, plagen sie sofort zermürbende Schuldgefühle. Auch eigene Bedürfnisse wie Hunger oder Erschöpfung kommen ihr angesichts der flüssig ernährten und leidenden Schwester lächerlich vor. Verschämt schiebt sie eigene Bedürfnisse beiseite.
Zugleich muss sich Nola nicht nur privat, sondern auch in ihrem Beruf als Psychotherapeutin intensiv mit dem Kummer anderer auseinandersetzen. Bei den Therapiesitzungen wird man das Gefühl nicht los, dass sich Nola in das Leben ihrer Patient:innen flüchtet, um ihre eigenen Sorgen zu vergessen. Für Herrn Pechmann, einen ihrer Patienten, für den sie bereits in ihrer Jugend schwärmte, entwickelt sie sogar Gefühle. Nur blöd, dass auch Nolas Patientin Frau Steiner ein Auge auf Herrn Pechmann geworfen hat … Eine skurrile, unglückliche Dreiecksgeschichte entspinnt sich, in der die Therapeutin ihre professionelle Distanz verliert. So leicht lassen sich private Probleme eben nicht wegschieben: Immer wieder holen Nola auch in ihrer Rolle als Therapeutin heftige Flashbacks ein, die eindringlich beschrieben werden. Auf einfühlsame Weise zeigt die Autorin dabei, wie Trauerbewältigung eben nicht funktioniert: durch die Flucht vor sich selbst. Während Nola sich ständig nur um andere kümmert, vergisst sie, sich um sich selbst zu sorgen.
Die Autorin führt dieses selbstzerstörerische Verhalten bei ihrer Protagonistin u. a. auf mangelndes Selbstwertgefühl zurück. Schon in der Schule steht Nola im Schatten ihrer Schwestern, bekannt höchstens als „Nimmer-Wimmerl“. Auch Nolas Fernbeziehung ist alles andere als förderlich für ihr Selbstbewusstsein: Friedrich ist vor allem auf seine wissenschaftliche Karriere bedacht und nimmt den Job seiner Partnerin nicht ernst („Psychotherapeut könne ja jeder werden“ (S. 25)). Die Beziehung startete ohnehin in einer Ausnahmesituation, die Nola schon vor der Krankheit ihrer Schwester durchmachen musste: Ihre Mutter lag im Sterben.
In diesen qualvollen Wochen, in denen sich der Tod der Mutter als unweigerliches Ende abzeichnete, suchte Nola Ablenkung. Auch Ida, die zu der Zeit noch gesund schien und Nola eigentlich sehr nahestand, konnte ihr keinen Trost spenden. Der Grund dafür ist das titelgebende fantastische Element: Ida ist nämlich überzeugt, die Zeit zu sehen – und zwar dann, wenn sie bei einem Menschen zu Ende geht. Angeblich umhüllt jene, deren Tage bald gezählt sind, glänzender Staub. Nola hielt es nicht mehr in einem Raum mit der seherischen Schwester aus. Zu groß war die Angst, diese hätte den ominösen Staub auch bei ihrer Mutter wahrnehmen und ansprechen können. Während sich Nola von ihrer engsten Familie distanzierte, ließ sie sich auf den sieben Jahre älteren, rechthaberischen Friedrich ein, der ihr zwar Ablenkung bietet, aber keine Kraft schenkt.
Die toxische Partnerschaft verstärkt das negative Selbstbild, das Nola von sich hat. Schlussendlich gipfeln die ständigen Selbstvorwürfe bei ihr einerseits im Wunsch, sich in Luft aufzulösen, und andererseits, in Momenten völliger Verzweiflung, dass andere sie für ihre Fehler bestrafen mögen: „Sie soll mich beschimpfen, mich ohrfeigen, mich treten, mir sagen, dass sie nie wieder was von mir sehen oder hören will.“ (S. 55) Caro Reichl bietet eine Erklärung aus der Psychotherapie für dieses Verhalten: Nola fügt sich unbewusst Leid zu, um den eigenen Schmerz klarer zu sehen und sich selbst besser zu spüren. Den inneren Kampf mit intensiven Gefühlen der Trauer und Einsamkeit stellt die Autorin anschaulich dar: Wiederholt greift sie in diesen Szenen das im Prolog eingeführte Bild des Phönix auf. Den Schmerz lässt die Protagonistin in ein glühendes Feuer aufgehen, das ihr schlussendlich dabei hilft, in eine unerschütterliche Vogelperspektive zu schlüpfen: „Es tut nicht weh, nichts tut hier oben mehr weh.“ (S. 56)
Die in Linz geborene und in Wien lebende Autorin arbeitet neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit als Werbetexterin, was sich möglicherweise in der klaren Sprache niederschlägt. Dass sich der Roman großteils aus stillen Gesprächen, die sich oft in der Du-Form an die Schwester richten, zusammensetzt, schafft eine berührende Nähe zur Protagonistin. Durch die Dialoge sowie die erinnerten und imaginierten Antworten der Nebenfiguren, die sich kursiv in den Text einflechten, wird auch Nolas Umfeld plastisch geschildert – jedoch immer gefiltert durch die Linse der Ich-Erzählerin.
Obgleich einzelne Dialoge und Handlungsverläufe etwas konstruiert wirken, lesen sie sich kurzweilig und sind dem vorherrschenden Thema, der Trauer, zum Trotz manchmal sogar zum Schmunzeln. Gerade die Dreiecksgeschichte, die sich zwischen der Therapeutin, ihrer Jugendliebe und einer Patientin entspinnt, nimmt etwas verwunderliche, aber immer unterhaltsame Wendungen. Wirklich eindrücklich hingegen ist die Allegorie des Phönix, dank der der Autorin eine ergreifende Geschichte über die Reaktionen auf Trauer und die Möglichkeiten ihrer Bewältigung gelingt. Leser:innen gewinnen nicht nur einen tiefgründigen Einblick in die Innenwelt eines Menschen, der von einer Krisensituation in die nächste gerät, sondern lernen auch viel über sich selbst. Um es mit den Worten Idas zu sagen: „Manchmal brauchen wir die Geschichten von anderen, damit wir besser an uns glauben können.“ (S. 106) So macht der Roman über die unauffällige Frau, die mit Schicksalsschlägen kämpft und dabei erst wieder zu sich selbst finden muss, trotz der bedrückenden Handlung auch ein bisschen Mut.
Alexandra Höfle, geboren in Bregenz, studierte Deutsche Philologie, Publizistik und Kommunikationswissenschaft in Wien. Ausgebildet zur Kulturmanagerin an der Universität für angewandte Kunst. Arbeitet aktuell für den Kultursommer Wien und ist nebenbei Redakteurin beim Magazin Buchkultur.