Die Gegend um Brighton, die Küstenstadt in Südengland mit ihrem wechselhaften Wetter, ist der Schauplatz, an dem sich der Großteil der Geschichte ereignet. Der Leser, die Leserin begegnet dem Figurenensemble des Romans in einem heutzutage offenbar zunehmend beliebten Setting: Zwei befreundete Wiener Familien mit Kindern im Klein- bis Vorschulalter mieten sich gemeinsam ein Ferienhaus und verbringen dort die geplanten zehn bis vierzehn Tage – hoffentlich – abwechslungsreicher als nur im Kernfamilienverband. Max ist seit seiner Studienzeit mit Mona befreundet und immer schon von ihr fasziniert gewesen; ein Paar sind sie dennoch nie geworden.
Die Tatsachen stehen zu Beginn der Handlung folgendermaßen fest: Max ist mit Sarah verheiratet, die Deutsch und Geschichte an einem Gymnasium unterrichtet. Zu ihnen gehören die aufgeweckte (gelegentlich altkluge), fünfjährige Emma und der alles nachplappernde und nachmachende, etwa zweijährige Jakob. Mona, freiberuflich als Kunstmanagerin tätig, hat sich vor einigen Jahren – für Max völlig unverständlich – für den ziemlich bodenständigen Unternehmer Stefan entschieden, der drauf und dran ist, mit Mona und dem gemeinsamen dreijährigen Sohn Thomas in ein eigenes Haus zu ziehen. Am Ende der Lektüre wird sich erweisen, dass so gut wie alle der vier erwachsenen Figuren hier die Rechnung ohne den Wirt gemacht haben.
In der trotz Kinderbetreuungsstress entspannten Urlaubsatmosphäre beginnen Max und die attraktive wie intelligente Mona immer heftiger miteinander zu flirten. Die ungestörten Momente zu zweit werden auch durch einen guten Einfall aus dem Kreis der vier Freund:innen erweitert: An vier aufeinanderfolgenden Abenden sollen je zwei von ihnen in eine Bar in der Nähe etwas trinken gehen, und zwar in allen vier Konstellationen. Bis Mona und Max an der Reihe sind, haben sie sich mindestens schon ausgiebig geküsst. Und am Tag vor der Abreise haben sie – wie man das früher gesagt hätte – bereits den Ehebruch vollzogen. Der endet übrigens nicht mit dem Urlaub.
Von der unerwarteten romantischen Wendung an der südenglischen Küste angeregt, denkt Max immer mehr über sein bisheriges Liebesleben nach. Da ist die Erinnerung an die Erasmus-Beziehung mit der Französin Pauline, die er genau in dieser Gegend, am Meer und in den Hügeln, als Auslandsstudent in Brighton erlebt hat. Diese Beziehung, deren Ende durch das Ende des Studienjahres vorgegeben war, lässt Max in schönen, lebendigen Szenen voller Leichtigkeit Revue passieren. An die romantischen Anfänge seiner Beziehung mit Sarah, der Mutter seiner Kinder, erinnert er sich bezeichnenderweise deutlich weniger. Dennoch sind etliche Stationen seines gemeinsamen Lebens mit Sarah, vor den Kindern und dann mit den Kindern, ebenso Gegenstand von Max‘ Überlegungen; diese Analysen durchziehen die gesamte Handlung und begleiten das dramatische Geschehen als zweiter, parallel geführter Erzählstrang.
Gábor Fónyad ist in seinem dritten Buch allerhand gelungen: Er porträtiert sehr genau eine Generation von gut ausgebildeten Menschen, die Freude an ihrem Beruf und am Leben allgemein haben, und sich dann trotz freiwilliger Entscheidung für eine verbindliche Beziehung und Familiengründung darin nicht mehr so wohl fühlen. Gezwungenermaßen reflektieren sie ihre aktuelle Lebenssituation immer wieder kritisch. Dies gilt übrigens nicht nur für Max und Mona, die gemeinhin „etwas Verbotenes“ machen; auch Sarah, die vermeintlich brave, anspruchslose und (ebenso wie Max) stets funktionierende Mutter, macht sich Gedanken über die zunehmend schwindende Mann-Frau-Beziehung zwischen sich und Max. Es scheint fast unausweichlich, dass sich die beiden an ihrem Paarabend in der Bar ausschließlich über die beobachteten Fortschritte ihrer Kinder unterhalten.
Neben diesem Kernthema macht Fónyad en passant exzellente Beobachtungen betreffend Kindererziehung und Familienleben unserer Tage: Der Zwang, Kindern ständig etwas zu bieten und immer ein kindertaugliches Programm parat haben zu müssen (Stichwort Aqua-Zoo), steht im eklatanten Gegensatz dazu, dass die lieben Kleinen am glücklichsten sind, wenn man sie auf ihre Weise ungestört spielen lässt. Auch zur Frage der geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Entwicklung der Kinder bietet der Text einige interessante Schlussfolgerungen. Zu welch jahrelanger Qual die Nächte für frischgebackene Eltern werden, seitdem es üblich geworden ist, Babys, aber auch Klein- und Vorschulkinder zeitweilig im Elternbett schlafen zu lassen, zeigt Fónyad in einer ungeheuer einprägsamen, längeren Szene, die Max sehr treffend als sein „Nomadenleben in den eigenen vier Wänden“ bezeichnet. Der Mensch im ständigen Wettbewerb mit anderen, selbst mit seinen Mitmenschen bis hin zum Lebenspartner, oder linguistische wie sprachphilosophische Überlegungen sind weitere Themen dieses sehr anregenden Textes.
Doch all das ist nicht bierernst oder todtraurig. Eigentlich gar nichts in diesem großartigen Roman. Gábor Fónyad ist ein Meister des witzigen Erzählens; eine Eigenheit von ihm ist es, den Humor immer auf einem gewissen Niveau zu halten, der läuft bei all seinen Texten einfach so mit. Hochkomisch ist auch sein Erstling, Zuerst der Tee, der 2015 im Verlag Wortreich erschienen ist. Die Erzählung über einen Sonderling als Stipendiat an einer britischen Uni gibt schon einen sehr klaren Eindruck von Fónyads Stil. Auch Was noch kommt – und es kommt noch ziemlich viel, für alle Beteiligten – ist dramaturgisch sehr ausgeklügelt aufgebaut, äußerst treffend in der Figurenzeichnung und hervorragend beobachtet, auf individueller wie auf gesellschaftlicher Ebene. Und last, but not least: Es ist eine große, sehr einfühlsam erzählte Liebesgeschichte.
Jelena Dabić, geb. 1978 in Sarajevo, studierte Germanistik und Russistik in Innsbruck und Wien. Übersetzerin aus dem Serbischen, Kroatischen und Bosnischen, Literaturkritikerin und Sprachlehrerin. Zuletzt erschienen in ihrer Übersetzung: 24 von Marija Pavlović (Roman, Drava, Klagenfurt 2021), Die schwindende Stadt von Pavle Goranović (Gedichte, edition korrespondenzen, Wien 2019) und Grüne Nacht in Babylon von Sofija Živković (Gedichte, Edition Aramo, Wien 2018). Teilnahme am 23. Poesiefestival Berlin (Juni 2022). Mitarbeit an den Anthologien Grand Tour. Reisen durch die junge Lyrik Europas. Hg. von Federico Italiano und Jan Wagner (Hanser 2019) und VERSschmuggel. Poesie aus Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Montenegro […] (Das Wunderhorn, Heidelberg 2023). Rezensentin beim Portal poesiegalerie.