#Roman

Weil da war etwas im Wasser

Luca Kieser

// Rezension von David J. Wimmer

Spektakulär tentakulär!

Tentakel sind in. Man denke etwa an Michael Stavaric’ und Michelle Gansers großartigen Verkaufserfolg Faszination Krake, 2021 bei Leykam erschienen und 2022 mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet – ein Buch, das sich voll und ganz den achtarmigen Meeresbewohnern widmet.

Oder an Marie Gamillschegs letztjährig erschienenen Roman Aufruhr der Meerestiere (Luchterhand), in dem tentakelbesetzte, fluoreszierende Rippenquallen in allen Weltmeeren (und in Graz) gespenstisch ihr Unwesen treiben, oder auch an die oscarprämierte Doku Mein Lehrer, der Krake aus dem Hause Netflix, die nicht minder von unserer gegenwärtig so tiefsitzenden Faszination für fangarmige Tiefseebewohner zeugt. Donna Haraway, wohl eine der einflussreichsten Theoretikerinnen unserer Zeit, spricht sogar von einem ‚tentakulären Denken‘, womit sie nichts Geringeres als eine ideengeschichtliche Zeitenwende einfordert – weg vom menschlichen Exzeptionalismus hin zu einem Denken, das der grundlegenden Komplexität und Verstricktheit unserer Gegenwart gerecht wird, in Theorien, Geschichten und Ideen, die über den eng gesetzten Fokus des Menschlichen weit hinausgehen. Dass sich Haraways Thesen auch in der deutschsprachigen Literatur niederschlagen hat jüngst der deutsche Literaturwissenschaftler Moritz Baßler erkannt, wobei er im „Tentakulären Erzählen“ einen gegenwärtigen Trend bemerkt, den er unter anderem an den Texten von Hengameh Yaghoobifarah, Joshua Groß, Lisa Krusche und Mithu Sanyal festmacht.

Tentakulär geht es auch in Weil da war etwas im Wasser, dem Debütroman des 1992 in Tübingen geborenen, aber mittlerweile in Wien wohnenden Autors Luca Kieser, zu. Darin wird gar wortwörtlich ‚tentakulär‘ erzählt, sind die vielstimmigen Erzähler:innen des Textes doch die Fangarme eines Architeutis, eines Riesenkalmars, oder genauer: einer Riesenkalmarin, um die auch ein Großteil der Romanhandlung kreist. Zehn Arme hat dieses Tier und gigantische Augen, denen die kleinsten Lichtmengen in der tiefsten See zum Sehen reichen, drei Herzen schlagen in ihm und sein Gehirn funktioniert netzwerkartig, dezentralisiert mit Verästelungen, die bis in die letzte Spitze jedes Arms reichen.

Ein wagemutiges Unterfangen also, einen Roman aus der Sicht eines solchen Wesens zu erzählen, das dem Menschen in Wahrnehmung und Lebensform so fern scheint und nicht ohne Grund als Alien der Tiefsee gilt. Doch Kieser gelingt es, genau diese Fremdheit, die dem Meer gesamtheitlich innewohnt, literarisch fruchtbar zu machen, indem er das Wesen nicht nur als fühlende und handelnde Figur auftreten lässt, sondern das Tentakuläre zum Formprinzip erklärt. Denn die mit unterschiedlichen Attributen versehenen Arme – da gibt es den Süßen Arm, den Blendenden Arm, den Hehren, den Bisschen-Schüchternen, den Eingebildeten, den Armen Arm, den Müden, den Halben und später auch einen Neuen Arm, nebst dem Einen und dem Anderen Tentakel – führen, immer auch mit eigenem Sound ausgestattet, durch das knapp zweihundert Jahre fassende Geschehen.

Das Buch teilt sich so in unzählige kleinteilige Erzählabschnitte, die zusammen eine Art multiperspektivisches Mosaik, oder besser: ein sich windendes Knäuel ergeben, das stets in Bewegung bleibt, sich hierhin und dorthin, in weltumspannende Ausmaße streckt und an Stellen, die es erfordern, auch wieder auf kleine, ja mikroskopische Details zusammenzieht. Erzählt wird dabei etwa vom Lebenszyklus und dem im besten Fall ignorant zu nennenden, weltweiten Fang des Krills, jener kleiner Krebstiere, die als Nahrungsgrundlage von u.a. Walen, Robben und Pinguinen so zentral für das arktische Ökosystem sind; von der 22-jährigen Sanja, die, vor der Tristesse ihres Studierendendaseins flüchtend, ein Praktikum auf einem Krillfänger im antarktisches Ozean ableistet; von Dagmar und ihrem wendungsreichen Lebensweg, der sie von einem Bauerndorf an der deutsch-österreichischen Grenze über das Bundesministerium für Inneres und Heimat bis zu einer Expedition in die Polarmeere führt; von den Autoren Jules (Verne), Peter (Benchley) und Arthur (C. Clark) und den Filmemachern Steven (Spielberg) und Bob (Mattey) und wie sich aus Teilen ihrer Werkbiografie so etwas wie eine kleine (Pop-)Kulturgeschichte der Meeresangst ableiten lässt.

Erzählt wird natürlich auch von der Riesenkalmarin, ihrer Angst vor Walen, ihren seltenen Begegnungen mit Artgenossen und stets lebensbedrohlichen Aufeinandertreffen mit Menschen, von ihrer Faszination für Unterseekabel und von ihrer schicksalshaften Verstrickung mit der Geschichte der fiktiven Familie Sanz, die sich über drei Jahrhunderte und mindestens drei Kontinente erstreckt. Erzählt wird über und aus der Perspektive von Menschen, Dingen und Tieren – mal informativ und wohlrecherchiert, mal humorvoll, mal spannungsgeladen, mal unheimlich, mal einfühlsam und zärtlich, mal poetologisch hochreflektiert, mal in erster, mal in zweiter, mal in dritter Person. Und nicht zuletzt wird auch von einem namenlos bleibenden, 1992 geborenen Autor erzählt – von seinen Versuchen, im Literaturbetrieb Fuß zu fassen, von Problemen mit seinem Penis und von einer neuen Romanidee, in der alles Vorangegangene ineinanderfließt.

Luca Kiesers Debüt ist ein wildes, ein überschäumendes, ein verspieltes und dabei hochgradig ambitioniertes Buch, eines das erzählerisch wie inhaltlich viel wagt und dabei meistens gewinnt. Denn auch wenn hinter den unzähligen Handlungssträngen und Teilmotiven kein klinisch durchkonstruiertes Erzählkonstrukt steht, bei dem sich letztlich alles nahtlos zusammenfügt, wenn sich manche Stränge ein wenig verlieren und andere in ihrer Exkurshaftigkeit vielleicht ein bisschen zu viel Raum bekommen, so liegt doch in der glaubhaften Darstellung von Verbundenheit, Verstricktheit, von Verwandschaft und von ‚Entanglement‘ die wesentliche Qualität dieses Textes.

Wie sich die einzelnen Greifarme in der Kalmarin zu einem gemeinsamen Wir zusammenfügen, erweisen sich auch die unterschiedlichsten Motive und Sachverhalte, die der Roman aufgreift, in all ihrer Unterschiedlichkeit als grundlegend zusammenhängend und kodependent. Ob in nur mehr global zu denkenden Ökosystemen, einem ebenso weltumspannenden Daten- und Wirtschaftssystem (im Text u. a. figuriert als real existentes Netzwerk an Tiefsee-Glasfaserkabeln) oder in scheinbar kleineren Strukturen wie einem Familienstammbaum – der Mensch ist – und darauf pocht der Text – als Individuum und als Spezies stets eingebunden in größere, oftmals auch schwer zu durchblickende Zusammenhänge. Konsequenterweise, könnte man sagen, sind also die verschiedenen Handlungsebenen um Tier, Welt und Mensch weniger fein verwoben als vielmehr verfilzt und verknotet, in umfänglichen Fußnoten und etlichen inner- wie außertextuellen Verweisen, die den linearen Leseablauf immer wieder untergraben und stören. Und auch damit wird das Buch zu einer der bis dato konsequentesten Antworten auf Haraways Forderungen nach „other kind of stories“ – als tentakuläre Erzählung, die Inhalt und Form ‚Fangarm in Fangarm‘ gehen lässt, als Erzählung, die sich ausprobiert, abtastet, sich windet und immer wieder festsaugt, um auch wieder loslassen zu können – stets offen und verknüpft zugleich. Ein eindrückliches, weil wunderbar eigenwilliges Debüt, das nicht zu Unrecht auf der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises steht.

Und ganz nebenbei ist das Buch – das soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben – in seiner grafischen Gestaltung (von Dorothea Löcker) eines der schönsten der letzten Jahre.


David J. Wimmer
, geb 1993 in Tamsweg. Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Graz und Bristol. Abschluss 2019 mit einer Master-Arbeit zu Gerhard Roth. Wiss. Mitarbeiter am Franz-Nabl-Institut in Graz. Arbeitet an einer Dissertation zum Werk von Clemens J. Setz. Kulturschaffender in unterschiedlichen Konstellationen (Film, Literatur, Theater). Mitglied des Autor:innenkollektivs plattform. Letzte Publikationen: Glitches, Bots und Strahlenkatzen. Gegenwart bei Clemens Setz. (Hg. mit Klaus Kastberger, Sonderzahl 2022)

Luca Kieser: Weil da war etwas im Wasser.
Roman.
Wien: Picus Verlag, 2023.
320 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-7117-2137-2.

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Rezension vom 14.09.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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