#Sachbuch

Wendezeiten / Zeitenwenden

Robert Weninger (Hg.), Brigitte Rossbacher (Hg.)

// Rezension von Bernhard Fetz

Im März 1996 haben sich deutsche und amerikanische Literaturwissenschaftler an der Washington University getroffen, um über
den Epochenbruch von 1989 zu diskutieren. Und tatsächlich ist eine Umwertung und Kanondiskussion im Gange, an deren Ende die
deutschsprachige Nachkriegsliteratur als literatursoziologisch definierte Epoche mit ihren Hauptwerken und den bestimmenden Autoren weiterexistieren wird, die aber in ästhetischer Hinsicht mit dem überlieferten Bild wenig mehr gemein haben wird. Bereits kurz nach der Wende hat Frank Schirrmacher in der FAZ das Ende der Literatur der alten Bundesrepublik eingeläutet und die Gruppe 47 als Zentralorgan des bundesrepublikanischen Bewußtseins attackiert. Diese journalistische Diskussion, etwa auch die Debatten um Christa Wolf und die DDR-Literatur, hat Konsequenzen für jede Literaturgeschichte der neueren Literatur. Was Jörg Drews in seinem Beitrag an der von Wilfried Barner herausgegebenen Literaturgeschichte der Nachkriegsliteratur kritisiert, sind weniger deren sachliche Fehler und Auslassungen, als vielmehr der mangelnde Mut zur Stellungnahme und Bewertung, die „intellektuell-konzeptionelle() Unentschiedenheit“ (S. 94).

Der Band versucht eine Neubestimmung der deutschsprachigen Literatur nach 1945 in vier Kapiteln: Es geht um „Redimensionierungen“, etwa mit einem Beitrag zum Verhältnis von Literatur und Terrorismus zwischen 1967 und 1977, um „Horizonterweiterungen“, um „Wi(e)derlektüren“ und um das Verhältnis deutschsprachiger und englischsprachiger Literatur. Der Horizont erweitert sich in Richtung der Minoritätenkulturen mit einem Beitrag zur deutsch-türkischen Literatur, aber auch in Richtung postmoderner Diskursstrategien.

Der Beitrag von Ingeborg Hoesterey zur Postmodernediskussion in Deutschland und Amerika macht die Diskursunterschiede deutlich. „Eine formalästhetische Orientierung veranlaßte die Exponenten der amerikanistisch-komparatistischen Postmoderne vor allem in der Frühphase, gewisse Monumente der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts als postmodern anzusehen, während diese Werke im germanistischen Diskurs als hochgradig modern galten und noch gelten.“ (S. 110)

Interessant ist die Auseinandersetzung Jürgen Schröders mit Botho Strauß im Kontext der Nachkriegsliteratur. Wie bei keinem anderen Autor verbinden sich beim „Adorno-Adepten“ Strauß aufklärerische und scheinbar reaktionäre Momente. Sein berühmt-berüchtigter Spiegel-Essay „Anschwellender Bocksgesang“ thematisiert indirekt auch die Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur und deren ideologischen Überbau. Der Beitrag macht deutlich, wie Werk und Person dieses Autors die neuralgischen Punkte deutscher Geistesgeschichte und deutscher Realverfassung nach 1945 treffen; Was Strauß fordert, ist eine „tiefere Aufklärung“ (Botho Strauß in seinem Ernst Jünger-Essay), die auch historisch weiter ausgreift als der gesellschaftskritische Reflex, der den intellektuellen Diskurs der Bundesrepublik über Jahrzehnte prägte.

In eine ähnliche Richtung geht der Beitrag David Pans zum Mythoskonzept des Philosophen Manfred Frank: Pan wirft Frank vor – und er stellt ihn damit in einen Traditionszusammenhang mit dem Naziideologen Alfred Baumler -, den ästhetischen Erkenntniswert des Mythos abzustreiten.

Hervorzuheben unter den „Wi(e)derlektüren“ ist Sara Lennox‘ Beitrag über die Rezeption Ingeborg Bachmanns. Bis hinein in die feministische Diskussion der 90er Jahre bestimmen Momente der frühen Bachmannrezeption in den 50er Jahren das Bachmannbild.

Die pragmatische und zugleich emphatische „Nachschrift“ zu Wendezeiten stammt von John E. Woods, einem der profiliertesten Übersetzer deutschsprachiger Literatur ins amerikanische Englisch. Im Gegensatz zur Hochkonjunktur amerikanischer Literatur im deutschsprachigen Raum nimmt der Kulturtransfer in die andere Richtung von Jahr zu Jahr ab. Drei bis vier tatsächliche literarische Erstübersetzungen sind es pro Jahr; diese Bücher fallen in einen kulturellen Raum, der fast nichts weiß von den Traditionen und Bedingungen deutschsprachiger Literatur: „A new text, for new readers, in a new context“.

Wendezeiten bietet in der Auffächerung der Themen die Grundlage für eine weiterführende Diskussion nicht nur der Frage: Was bleibt von der Nachkriegsliteratur? Die deutschen und englischen Beiträge zeigen vielmehr, daß die Einheit der deutschen Nachkriegsliteratur und der sie begleitenden Diskurse aufgebrochen werden muß. Was nottut, ist eine Entinstrumentalisierung von Literatur, ein Insistieren auf der ästhetischen Erkenntnisfunktion, ohne dabei die blinden Flecken im politischen Bewußtsein (etwa bei einer Neubewertung der Literatur aus der ehemaligen DDR) zu verdrängen.

Robert Weninger, Brigitte Rossbacher (Hrsg.) Wendezeiten / Zeitenwenden. Positionsbestimmungen zur deutschsprachigen Literatur 1945-1995.
Tübingen: Stauffenburg Verlag, 1997, XVI.
260 Seiten, gebunden.
ISBN 3-86057-207-5.

Verlagsseite mit Informationen über das Buch

Rezension vom 18.06.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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