Mit diesem Mehrwollen korrespondiert ein weiteres Grundgefühl der heranwachsenden Nava Ebrahimi, das sich aus ihren Migrationserfahrungen ableitet, und die Zufälligkeit, die Nichtnotwendigkeit des Status Quo berührt. Diese spezifische, mehrwollende, die Gegebenheitsgrenzen in Frage stellende Denk- und Gefühlskonstellation bildet für Ebrahimi einen Ausgangspunkt, mit ihr „beginnt die Vorstellungskraft, beginnen wir zu erzählen, weil uns bewusst wird, dass auch alles ganz anders, woanders oder überhaupt nicht sein könnte. Dass wir, dass ich ganz anders, woanders oder überhaupt nicht sein könnte.“ (S. 14) Es ist von diesem in letzter Konsequenz existenziellen Kontingenzbewusstsein und der daraus gestellten Frage, „warum jemand oder etwas hier und nicht woanders ist“, von der für Ebrahimi die „Kunst des Schreibens“ (S. 12) abhebt.
Die erzähl- und schreib-anstoßende Wahrnehmung der Welt in ihrer Nicht-, ja Niemalsselbstverständlichkeit ist wie schon angedeutet auch mit Ebrahimis persönlicher Geschichte verbunden: „Zu glauben, alles sei an seinem Platz, dem einzig richtigen, und das nicht zu hinterfragen, das ist mein Begriff von Kindheit, von einer normalen Kindheit ohne die Erfahrung von Migration.“ (S. 12)
Geboren in Teheran, durch einen „Bruch in der Geschichte“ (S. 15), der iranischen Revolution 1979, aufgewachsen in Deutschland, erscheinen ihr in Migrationsbewegungen hineingezwungene Menschen wie (ein Bild aus dem Film American Beauty) „Plastiktüten im Wind“ (S. 16) der Geschichte. Umso wichtiger ist es für Ebrahimi, ein Bewusstsein von der individuellen Ohnmacht gegenüber einem historischen Großsignifikanten zu erlangen und „in diesem Ausgeliefertsein einen eigenen, schöpferischen Ausdruck [zu] finden für diese Sonderrolle.“ (S. 16)
Die zentralen Einträge im Autorinnen-CV weisen darauf hin, dass diese Selbstbehauptungsstrategie funktioniert hat: Die nunmehr mit ihrer Familie in Graz lebende Nava Ebrahimi gewinnt 2017 den österreichischen Buchpreis in der Kategorie Debüt für ihren ersten Roman Sechzehn Wörter, erhält 2021 den Bachmannpreis für ihren Text Der Cousin. Die hier besprochenen Reflexionen entstehen für die Grazer Vorlesungen zur Kunst des Schreibens, als Addendum des bei Droschl erschienen Bändchens findet sich zudem die am 5. September 2021 gehaltene Rede zur Wiedereröffnung des Wiener Burgtheaters nach der pandemiebedingten längsten Schließung seiner Geschichte.
Alles gut also, könnte man denken, die im literarischen Establishment angekommene Autorin hat sich qua Imagination über die Zäune und Mauern von Herkunft, Historie und Hineingeworfenheit hinweggedichtet: „Die Vorstellungskraft […] macht an keiner Grenze halt, sie unterliegt keinen Regeln. […] Ein weißes Blatt Papier beinhaltet potenziell die ganze Welt.“ (S. 20) Und doch braucht es nur einen Schreibauftrag in einem Rezeptionssetting, das potenziell für Hochkulturdünkel und klassistisch-rassistisch-sexistische Exklusion steht, um eine Schreibblockade zu triggern. Eine Burgtheaterrede vor einem Burgtheaterpublikum nämlich, das mit der ungetrübten Selbstverständlichkeit kultureller und ökonomischer Kapitalstärke von der als Rednerin eingeladenen Autorin die Repräsentanz der eigenen Nichtselbstverständlichkeit erwartet, „migrantinnenkonformes Zeug, was immer das sein mag, aber ich soll mich auf jeden Fall marginalisieren und der Politik, dem Patriarchat, der Mehrheits-, nein, der Dominanzgesellschaft den Spiegel vorhalten.“ (S. 75)
In so einer Situation kann man unbehaglich liefern, was implizit-offensichtlich erwartet wird, oder, wie Nava Ebrahimi, das doppelte Erwartungsdilemma auf die Metaebene wuchten und von dort auf die Burgtheaterbühne knallen. Das heißt, die elementare „Spannung“ (S. 37) zwischen vulnerabel-fragmentierter Selbsterfahrung und unverbrüchlich-alteingesessener Selbstsicherheit des vom Burgtheaterpublikum verkörperten Kultur- und Wirtschaftsstablishments zum Thema des Textes, der Rede zu machen: „[G]lauben Sie mir, ich würde gerne mal mit Ihnen tauschen und wie Sie im Publikum sitzen mit dem Gefühl: Dass ich hier sitze, das ist die größte Selbstverständlichkeit der Welt“ (S. 84). Aus der Explizitmachung des Nichtselbstverständlichen, des gänzlich Unselbstverständlichen die eigene, als prekär empfundene Redeposition herauszuarbeiten: „Ich war noch nie hier, meine Eltern waren noch nie hier und meine Verwandten wissen nicht einmal, was das Burgtheater ist, ich habe mich hier quasi nur eingeschlichen.“ (S. 72) Und schließlich (Migrations-)Erfahrungen sozialer Degradierung in eine Dekonstruktion von Distinktionsmarkern zu überführen und sich ikonoklastisch vom bildungsbürgerlich idolisierten (Burgtheater)Deutsch zu befreien: „Für meine Großmutter klang Deutsch übrigens so: CheschCheschChesch. Das zur Schönheit Ihrer Sprache.“ (S. 84)
Nava Ebrahimis Schreib- und Selbstkontemplationen sind hyperreflektiert, analytisch ausdifferenziert und niemals nur auf das Schreiben oder das Selbst reduziert. Mag es auch, wie die Autorin meint, im Alltag bisweilen hilfreich sein, zu verkürzen, zu vereinfachen: „Aber wenn ich schreibe, gibt es alles dazwischen“ (S. 19). Diese Miteinbeziehung von Dissonanz und Ambivalenz gilt für ihr autobiographisch-essayistisches Schreiben ebenso wie für ihr fiktionales Ausloten von Imaginations- und Identitätserfindungspotenzialen, in dem Ebrahimi letztlich (auch) eine Spur zurück zu sich selbst ausmacht: „Das Schreiben ist für mich womöglich der Versuch, über den Umweg fiktiver Charaktere herauszufinden, wer ich eigentlich bin.“ (S. 69) Ein Selbstversuch, der auch ihre Lesenden zur Selbstverunortung, zur Selbstverunsicherung anstößt. Alle Lebensumstände sind schließlich „purer Zufall, dafür kann niemand von uns etwas.“ (S. 85) Es bräuchte nur einen kleinen Windstoß der Geschichte und schon wäre man jemand anderes, jemand woanders. Bei all den von uns unverdient Privilegierten mitverschuldeten, mitgeduldeten humanitären und ökologischen Katastrophen kann deshalb, so der Buch wie Burgtheaterrede abschließende Appell der Autorin, nur gelten: „Bitte schminken wir uns jede Form von Überheblichkeit ab.“ (S. 90)