Die Hauptbeschäftigung der Figuren Jana und Naz ist es aber eigentlich, ihre Lebensgeschichte zu schreiben, die zufälligerweise große Ähnlichkeit hat mit der Lebensgeschichte ihrer Pseudonyme Ilse und Fritz, die den Publikationen dann auch (meistens) ihre Namen leihen dürfen und auch sonst immer wieder gerne dazwischenfunken. „Text“ kommt nicht umsonst von „Gewebe, Geflecht“. Und Kilic&Widhalm haben in ihre Werktextur noch ein paar außerliterarische Komponenten mit eingeflochten. Ebenso verwoben wie Fiktion und Realität sind das Gestern und das Heute. Die Erinnerung, aus der Gewesenes sich erst in Worte fassen lässt, ist ja schließlich hier und jetzt präsent. Nur natürlich also, dass das Hier und Jetzt auch Einfluss nimmt auf das, woran wir uns erinnern.
Das, was erinnert wird, sind nun die späten 70er Jahre. Erst(best)e Freunde, erste Urlaube, eigentlich high life. Aber „wenn die gegenwart traurig ist, fällt es der vergangenheit schwer, fröhlich erzählt zu werden, sagt die jana“ zu Beginn des Verwicklungsromans fünften Teils, der klären soll, „Wie wir sind, was wir wurden“. Programmatisch der Titel, es geht nicht nur um das Werden , sondern auch sehr um das Gewordensein. In Teil fünf ist dies leider überschattet von Krankheit, genauergesagt Janas/Ilses Brustkrebs, den sie sich gerne aus den Zellen schreiben würde. Nichts ist mehr selbstverständlich, wie es war, auch das Leben selbst nicht. Alle spüren unbehaglich die eigene Vergänglichkeit. Leser inbegriffen.
Janaz und ihre Pseudonyme betrachten sich und ihre Welt aber auch in schweren Zeiten scheinbar kindlich naiv und demontieren dabei spielerisch das wacklige Gerüst aus Konvention und Sachzwang. Und staunend wie die Kinder fassen Sie in Worte und Sätze, was sie sehen, und zeigen, dass Sprache auch ganz einfach bleiben darf, wenn man und frau was Gscheites sagen. Unterhaltsam und ganz ohne jedes Tabu. Man und frau teilen mit, was sie denken. Man und frau dürfen sich über Krankheit und Angst ebenso auslassen wie über Sex, Lieblingssongs oder alltägliche Verrichtungen.
Den Blick für das Detail zu schärfen, auf das Alltägliche zu lenken, hat Tradition in der (österreichischen) Literatur. Biografien und Autobiografien werden seit Jahrzehnten gerne gelesen und erfreuen sich steigender Beliebtheit. Und spielerische Reflexion über Erzählhaltungen ist aus der (post)modernen Schreibe nicht mehr wegzudenken. Ilse Kilic und Fritz Widhalm schreiben in ihrem Verwicklungsroman all diese Traditionen fort – lassen dabei aber etwas ganz Neues entstehen.
Die Kunst schöpft aus dem Banalen und stellt dabei existentielle Fragen; Autoren und Figuren verschmelzen in einer SchreibWG, wer die Geschichte einer Figur erzählt, erzählt immer auch über sich selbst; und wer eine Autobiografie schreibt, stilisiert sich selbst zur Figur. Unweigerlich.
Werden in der klassischen Autobiografie oft leicht verschämt, distanziert und durch die Blume Leseempfehlungen für weitere Werke des Verfassers abgegeben, geschieht das im Verwicklungsroman ganz ab- und offensichtlich. Unverblümt und ungeniert machen Janaz, Ilse und Fritz Werbung für eigene und fremde Texte, Bücher, Lieder, Filme. Sie erzählen uns eben, was sie mögen, wissen und empfehlen wollen. Ganz ohne sich zu zieren. Zitiert wird munter rauf und runter kreuz und quer (im Freundes- und Literatenkreis); auch die Rezensionen des Verwicklungsromans werden einbezogen und besprochen. Interaktion zwischen Textsorten, Vorstellungswelten, (Roman-)Innenwelt und Außenwelt sind buchstäblich an der Tagesordnung. Die Wiederholung einzelner Partikel wird dabei zum Insiderschmäh und der Leser alsbald zu ebendiesem Insider. So ist das halt, wenn man sich näher kennenlernt. (Huch. Übrigens: Auch Fußnoten sind sehr beliebt und werden häufig angewendet. Im „Verwicklungsroman“ erscheinen sie wohl nicht nur als Anspielung auf wissenschaftliches Arbeiten, sondern auch um zu signalisieren: Übrigens: da war noch was…)
Eingehende Betrachtung verdient übrigens auch der Bild&Text-Abschnitt inmitten des Verwicklungsromans: diesmal sind es Fotocollagen von der Wiege bis zur Gegenwart.
Experimentelle Literatur hat im Allgemeinen den Ruf, schwer zugänglich zu sein und erfreut sich selten größerer Breitenwirkung. Auf der einen Seite steht das Bedürfnis eines breiten Publikums nach Unterhaltung, auf der anderen eine Literatur, die existenzielle Fragen stellt, nach Struktur, nach dem was ist und dem, was daraus werden könnte. Der Verwicklungsroman ist auch diesbezüglich Player in zwei Welten: offen und zugänglich sowie aufmüpfig experimentierfreudig und entdeckungsfreudig. Nicht zuletzt einer Wiederentdeckung des Erzählens haben sich Ilse Kilic und Fritz Widhalm in ihrem gemeinsamen (Haupt?-)Werk verschrieben, sich auf die Suche nach les- und schreibbaren neuen Wegen begeben.
Und sie zeigen beispielhaft, dass experimentelle Texte weder elitär noch schwierig sein müssen. Übrigens: Fortsetzung folgt – 2009?