Der Titel Wien 1900, der am großen aktuellen Interesse am österreichischen Fin-de-siècle seit Schorskes Studie anschließt, ist nicht ganz richtig. Pollak geht in großen Zügen der österreichischen Tradition im 19. Jahrhundert nach. Was ihn dabei besonders interessiert: Welches Identitätsgefühl bildet sich in einem Staatsgebilde aus, das mehr als ein Jahrhundert sukzessive Macht einbüßt und mit dem Ersten Weltkrieg implodiert? Das kreative Potential der Wiener Szene um 1900 konstituiert sich unter der Utopie, über Kunst und Kultur so etwas wie österreichischen Patriotismus aufzubauen und die Vielvölkermonarchie unter deutscher Dominanz zu retten. Deshalb auch die besondere und merkwürdige Förderung des Kaisers für die Wiener Secession. Die Erneuerung des österreichischen Mythos geschieht als Gegenzug zu Antisemitismus und Nationalitätenwahn und hat ästhetisierende Züge: „Das Modell hierfür stellte gewissermaßen der Konzertsaal dar, in dem die ästhetisch gebildeten Zuhörer sich der pathologischen Emotionen, welche die Parvenüs auslösen wollten, zu enthalten wissen.“ (S. 151) Als die Kunst wenig Aussicht auf politische Stabilität verhieß, suchten Intellektuelle und Künstler Verbündete; viele setzten schon vor dem Ersten Weltkrieg auf den Katholizismus als stabilisierende Kraft.
Die „verletzte Identität“, die Pollak diagnostiziert, ist in einer Doppelbewegung gefangen. Sie sucht Rettung und Erlösung durch den Krieg oder durch den genannten Katholizismus, später durch den Austrofaschismus, oder sie hält dem irritierenden Chaos der Moderne nicht stand und verschanzt sich in einem antimodernistischen Kulturpessimismus. Alle zusammen, ob Hugo von Hofmannsthal oder Karl Kraus, sind geeint durch eine elitäre, aristokratische Haltung und das „Unvermögen […], im multinationalen österreichischen Universum ihre Zugehörigkeit zur deutschsprachigen Gruppe, ja auch den einfachen Gebrauch des Deutschen als Arbeitswerkzeug anders als in Begriffen kultureller Überlegenheit zu denken“. (S. 279)