#Roman

Wien, Juli 1999

Milo Dor

// Rezension von Natalie Tornai

Milo Dor glaubt längst nicht mehr daran, daß man mit „Schreiberei“ etwas bewirken kann. Von all seinen Büchern hätte nur sein allererster Roman über den Zweiten Weltkrieg eine Wirkung gehabt, meint er: Fünfzig Jahre nach Erscheinen des Buches wurde einer der von ihm beschriebenen Folterknechte und berüchtigten Spezialpolizisten Belgrads ausfindig gemacht und vor ein kanadisches Gericht gestellt. Als Milo Dor sich schließlich bereit erklärte, als Zeuge in dem Prozeß gegen ihn auszusagen, erfuhr er, daß der Angeklagte bei Verlesung der Anklageschrift einen Schlaganfall erlitten hatte und ihm infolgedessen nicht mehr der Prozeß gemacht werden könnte.

Und dennoch, so scheint es, hat Dor die Hoffnung nicht gänzlich aufgegeben. Sein jüngst erschienenes Buch entwirft ein Bild von Wien im Juli 1999, kurz nachdem die „Bewegung“ unter ihrem Führer Haselgruber die Macht übernommen hat. Die Stadt ist geprägt von der Ordnung der neuen Machthaber, Polizei und Ordnungstrupps durchkämmen die Straßen, die Menschen sind geteilt in solche, die bereit sind, der neuen Macht blind zu gehorchen, und jene, die in lähmender Angst davor erstarrt sind. Ausländer, Minderheiten und Oppositionelle haben keine Chance gegen die „herumwirbelnden Bilder“ der gleichgeschalteten Medien, die den Widerstand der Menschen schon im Keim ersticken.

In dieser Atmosphäre begegnet dem Leser Mladen Raikow alias Milo Dor, ein alter, müder und wohl auch schon etwas gebrechlicher Mann, der durch die Stadt wandert und sich durch die Szenen, die er erlebt, immer wieder in seiner Vergangenheit wiederfindet: „Was einmal wirklich war, bleibt ewig möglich.“ (Rabbi Menasse ben Israel)

Es ist unschwer zu erkennen, welche „Bewegung“ Dor in seinem Buch beschreibt, und es liegt auf der Hand, welche politische Entwicklung Österreichs er vorwegnimmt.
Mladen Raikow, Alter ego des Autors, hat zuviel erlebt, als daß er nicht wüßte, wovon er schreibt. Er war bereit, für seine politische und menschliche Überzeugung mit dem Leben einzustehen – und wurde verfolgt, gefoltert und zur Flucht gezwungen. Heute, im Wien des Jahres 1997, ist er müde geworden und desillusioniert. Manchmal denkt er zu Hause im Badezimmer bei rauschenden Wasserhähnen (um die in seiner Wohnung installierten Wanzen zu übertönen) zusammen mit seiner Frau laut über einen gemeinsamen Selbstmord nach. Aber dann steht Dor auf und schreibt ein Buch wie dieses. Weil ein Stückchen Hoffnung und Zuversicht geblieben ist, auch Idealismus im Glauben an die Menschen, die nach ihm gekommen sind. Mit ihnen wird er eines Tages gemeinsam auf die Barrikaden steigen, um seinen „Traum von einem freien, kosmopolitischen Wien“ und darüberhinaus von einer freien, kosmopolitischen Welt, gegen „unsichtbare, aber allgegenwärtige Feinde zu verteidigen“.

Milo Dor Wien, Juli 1999
Roman.
Wien, München: Zsolnay, 1997.
120 S.; geb.
ISBN 3-552-04847-2.

Rezension vom 10.09.1997

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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