Frauen mögen solche Epen der gereiften Männlichkeit meist nicht allzu sehr. Die alles umfassende Ironie, von denen sie durchtränkt sind, erscheint ihnen als chauvinistischer Überlegenheitsgestus, hinter dem sie wohl nicht zu Unrecht eine letztlich misogyne Schlagrichtung vermuten. Denn im Lachen sind sich die Männer meist einig, auch wenn sie sonst ganz unterschiedlich zu denken vorgeben oder es sogar tun.
Roseis Romankonstruktion erinnert in vielem an den Herrn Dr. Heimito: die fleischige Substanz der Figuren, die Fülle des Personals, das manchmal extrem konstruiert wirkende kunstvolle Kurzschließen der Handlungsstränge, der freche Umgang des Erzählers mit seinen Figuren, die (beinahe) Beschränkung auf die Alltagsgeschichte und vor allem die nachgerade virtuose Beschwörung des Genius loci durch unglaublich sinnliche atmosphärische Schilderungen. Das dritte Kapitel des ersten Teils etwa beginnt so: „Fährt man von Osten auf Wien zu, hat man zuerst nur eine leere, von grünen Pappelalleen und halb ausgetrockneten Flußbetten durchzogene Ebene vor sich, heute vielfach von Industrieansiedlungen durchstanden, von Autobahnen zerschnitten, die eigentlich ein abgetrennter Teil der großen ungarischen Tiefebene ist, ehe man an den Abhängen, den Kuppen von Wiener- und Laaerberg anlangt. Übersteigt man diese Höhen, liegt die Stadt vor einem hineingegossen in die Bucht oder Muschel, die vom Rund der Wienerwaldberge gebildet wird.“ Bis in die Metaphern hinein geht hier die Verwandtschaft mit Doderer. An anderer Stelle wird sogar dessen Unterwasserlicht beschworen, der typisch doderereske flirrende Baumschatten.
Dennoch wäre es natürlich ungerecht, Rosei auf Doderer zu reduzieren. Roseis Roman muss trotz aller Abhängigkeiten als genuine Eigenleistung angesehen werden. Immerhin macht er den lobenswerten Versuch, ein Bild Österreichs und vor allem Wiens von den ersten Nachkriegsjahren bis in unsere Gegenwart zu geben. Doch leider, man muss dies sagen, scheitert er an der jüngeren Gegenwart. So überzeugend und plastisch er die fünfziger und sechziger Jahre atmosphärisch wiederzugeben im Stande ist und dies auch mit gebührender Ausführlichkeit tut, so wenig gelingt es ihm, die siebziger, achtziger und neunziger Jahre ins Bild und in eine adäquate Sprache zu bannen. Fast kommt es einem vor, als hätte der Autor beim allmählichen Ausführen seines Konzepts die Lust an selbigem verloren. Die Entwicklung der einzelnen Figuren wird nicht mehr schrittweise verfolgt, sondern sprunghaft und in wenigen Sätzen wiedergegeben. Das Politische, das zunächst unaufdringlich, aber umso anschaulicher im Figurativen und Atmosphärischen gestaltet wurde, kommt plötzlich in Gestalt Bruno Kreiskys als Allegorie daher. Und der Umgang der Zweiten Republik mit der Kunst wird am anekdotisch erzählten Beispiel des Schriftstellers Berner in vereinfachender Kürze abgefertigt. Hinter Berner ist unschwer Bernhard erkennbar, was umso trauriger ist, weil Roseis Roman damit zuletzt doch noch in die sentimentale Schlüsselroman-Straße einbiegt, die er mehr als zweihundert Seiten hindurch so tapfer gemieden hatte.
Dennoch: Roseis Buch beweist nicht nur die Möglichkeit, heute in deutscher Sprache einen panoramatischen Roman zu schreiben, sondern er setzt diese Möglichkeit über weite Strecken überzeugend in Wirklichkeit um. Ein Literaturprofessor, der im Jahr 2015 eine Vorlesung über die österreichische Literatur des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts hält, wird an Roseis Roman nicht vorbeikönnen, ebenso wenig wie ein heutiger Leser, der die wichtigsten Bücher jeder Saison lesen will.