Erst seit 1990, mit der Übernahme des Nachlasses durch das Österreichische Literaturarchiv der Nationalbibliothek (gemeinsam mit der Wiener Stadtbibliothek) von der Berliner Akademie der Künste (wo man nicht gerade sehr sorgfältig mit der Horváthschen Hinterlassenschaft umging) und der wissenschaftlichen Betreuung des Nachlasses unter der Federführung von Klaus Kastberger, hat sich die Editionspraxis geändert: vorerst mit zwei bislang Unbekanntes und Unveröffentlichtes sowie Korrigierendes präsentierenden Supplementbänden zur Kommentierten Werkausgabe und einigen verstreuten kleineren Editionen und Aufsätzen (etwa zur Genese der Geschichten aus dem Wiener Wald). Diese sind durchwegs anzusehen als Vorarbeiten zu der vom Genannten mit einem MitarbeiterInnenstab in Angriff genommenen, auf 18 Bände angelegten historisch-kritischen Gesamtausgabe von Horváths Werk, eingeschlossen „Briefe und Lebensdokumente“. Der erste Band (im Plan der Edition der vierte) dieser so genannten Wiener Ausgabe liegt nun vor und lässt am Beispiel des Volksstücks Kasimir und Karoline einen Blick in die Werkstatt des Autors zu. Die an die Edition geknüpften Erwartungen sind hoch gesteckt und werden – soviel kann vorweg gesagt werden – auch nicht enttäuscht.
Im Nachlass finden sich zu Kasimir und Karoline vom Herbst 1931 bis zum Frühjahr 1932 sowie mit Überarbeitungen im Umfeld der Uraufführung vom Herbst 1932 rund 330 Textzeugen, die sich in zwei Stufen Vorarbeiten und fünf Stufen unterschiedlicher Konzeptionen gliedern und die erkennen lassen, dass der Autor sehr intensiv am Text gearbeitet hat: entgegen übrigens der Meinung mancher seiner Interpreten, die in ihm eher ein schlampiges Genie gesehen haben. Die Textgenese, die hier nicht in ihren Details verfolgt werden kann, erlaubt einige doch sehr interessante Einsichten in die Arbeitsweise Horváths allgemein und in die Entstehung von Kasimir und Karoline im besonderen, die dann für die Interpretation dieses Volksstücks auch nicht unwesentlich sind.
Die Vorarbeiten lassen naturgemäß nur rudimentäre Vorwegnahmen der späteren Textgestaltung erkennen, bemerkenswert jedoch, dass die allererste Stufe (noch ohne Titel) den ursprünglich engen Zusammenhang der Entstehung von Kasimir und Karoline mit der von Glaube Liebe Hoffnung offenbart: durch die auf dieses Stück voraus weisende Szenerie „Vor dem Anatomischen Institut“, dessen Personal und das Motiv des sich bei Lebzeiten an die Anatomie Verkaufen-Könnens einerseits, durch das für das Volksstück wichtige Zeppelin-Motiv sowie die bereits auftauchenden Namen Kasimir und Karoline andererseits.
Größere zusammenhängende Textausführungen beginnen auf der Stufe der Konzeption 1 (mit dem Titel Kasimir und Katharina. Volksstück in fünf Bildern). Die Konzeption 3 (wie schon Konzeption 2 unter dem Titel Kasimir und Karoline in sieben Bildern) bietet dann eine erste „konsistente Textfassung“, rückt vor allem auch die für Horváths Volksstück-Auffassung so wichtige soziale Problematik und Geldthematik ins Zentrum. Erst die Konzeption 4 (Kasimir und Karoline in 117 Szenen) bringt aber die endgültige Lokalisierung „auf dem Münchner Oktoberfest“ sowie die historische Festlegung auf „unsere Zeit“, sprich: die frühen 1930er Jahre. Die Textgenese lässt erkennen, wie wichtig dem Autor, der seinem Selbstverständnis zufolge bekanntlich ein „treuer Chronist“ seiner Epoche sein wollte, der sozialkritische Aspekt war, speziell die (alles andere als auf seine Zeit beschränkte) zerstörerische Wirkung desaströser ökonomischer Verhältnisse auf zwischenmenschliche Beziehungen und die Probleme des neuen Standes der Angestellten. Die Vorstufen geben auch Einblick in die konkreten Auseinandersetzungen Horváths mit den ideologischen Angeboten der Zeit (das Liebäugeln Kasimirs mit den Kommunisten, ja sogar mit Hitler), die er in politische Ratlosigkeit seiner Personen münden lässt, für die sich mit keinem ideologischen Angebot mehr Zukunftsperspektiven eröffnen.
Ursprünglich wollte der Autor sein Stück im Schrebergartenmilieu des vorstädtischen Haidhausen ansiedeln. Die schon angesprochene Lokalisierung auf dem Oktoberfest erlaubt ihm eines der für seine Stücke typischen „verpatzten Feste“ (Schmidt-Dengler) zu inszenieren, auf denen politische, soziale und persönliche Träume ihre Desillusionierung erfahren. In Kasimir und Karoline demaskiert er das Klischee von der karnevalistischen Aufhebung sozialer Differenzen auf dem Oktoberfest sowie Karolines (und damit allgemein des Kleinbürgers) Hoffnung auf sozialen Aufstieg als Illusion.
Die inhaltliche Zuspitzung im Verlauf der Arbeit am Text findet Niederschlag auch im Formalen, in der Weise, dass Horváth das herkömmliche Volksstückschema erfüllend, dieses zugleich unterläuft: Zwar finden wie üblich Paare zueinander, aber es ist dennoch alles andere als ein happy ending, das der Autor inszeniert, vielmehr wird im Wechsel und im Finden von Partnern das Fehlen eines gesellschaftlichen Spielraums für das Kleinbürgertum der Zeit durch die Aufgabe sämtlicher Zielvorstellungen und Zukunftshoffnungen bewusst gemacht. Nur scheinbar ist die Handlung von Kasimir und Karoline eine lose, gar chaotische, wie dem Stück anlässlich der Uraufführung und von Interpreten gelegentlich vorgeworfen wurde. Die Textgenese zeugt im Gegenteil von einem eher mühsamen Ringen um eine adäquate Dramaturgie, eine „Karussell-Dramaturgie“ (Reinhold Grimm), die die soziale Aussichtslosigkeit widerspiegelt. Zum formalen Kalkül gehört auch der – erst der letzten Arbeitsstufe vorbehaltene – raffinierte dramaturgische Einsatz musikalischer Einlagen, der das Karussellhafte unterstreicht.
Nicht nur die Komposition des Volksstücks erweist sich als raffiniert ausgeklügelt, auch bei der sprachlichen Gestaltung geht Horváth mit Kalkül zur Sache. Die vielen „schrägen Sätze“, die der Autor seinen Kleinbürgergestalten in den Mund legt, sind nicht einem naturalistischen Anspruch geschuldet, dienen vielmehr dem, was Horváth als sein vorrangiges Ziel formuliert hat: der „Demaskierung des Bewußtseins“, eines „verkitschten“, falschen Bewusstseins, das das Kleinbürgertum seiner Zeit politisch, gesellschaftlich und im Privaten ins Unglück schlittern lässt. Die Edition trägt der kalkulierten Verfahrensweise des Autors angemessen Rechnung. Nur sehr behutsam werden Emendationen dort vorgenommen, wo es um offensichtliche Verschreibungen oder um orthographische Uneinheitlichkeiten geht. Allemal aber sind solche Eingriffe penibel offen gelegt. Keine Eingriffe werden hingegen vorgenommen in stilistische Eigenheiten (auch wenn es um „Verstöße“ gegen die Grammatik geht), vor allem auch nicht in dialektal gefärbte Formulierungen.
Mit der Wiener Ausgabe von Kasimir und Karoline liegen nun alle Textzeugen zu diesem Volksstück systematisch erfasst vor. Die zahlreichen Faksimiles lassen erkennen, dass sorgfältig und nachvollziehbar transkribiert wurde. So herrscht mithin erstmals im Hinblick auf ein Werk Horváths Textsicherheit. Die teure Edition werden sich die wenigsten Leser und Leserinnen leisten. Die gute Nachricht: in der Reihe von „Reclams „Universal-Bibliothek“ liegt der gesicherte Text, erweitert um „Material zur Textgenese“ (auch mit einigen Faksimiles) und um „Begleitende Texte“ in einer wohlfeilen Ausgabe vor.