Vor allem der ungeschickte und seiner verstorbenen Mutter verfallene Musiklehrer Josef passt zum tristen, wehleidigen Flair Wiens. Die egozentrische, wenn nicht leicht wahnsinnige Mutter Josefs verordnete dem schwächlichen Kind Musik als Allheilmittel: „Lag ich aufgrund eines abrupten Wettersturzes mit geschwollenen Rachenmandeln und hohem Fieber im Bett, setzte sie sich ans Klavier und spielte mir Lieder ihres Lieblingskomponisten Gustav Mahler vor, vorzugsweise die von ihr geschätzten Kindertotenlieder.“ Wach geküsst wird er von Magnolia. Sie ist Amerikanerin mit einer aus Wien stammenden Mutter und einem afroamerikanischen Vater. Durch Zufall findet sie in der unheimlichen Wohnung ihrer schaurigen, uralten Tante Pia die Tagebücher der Rosa Havelka. Rosa kommt als uneheliches Kind in einem böhmischen Kurort zur Welt, wo sie ihre gutgläubige Mutter, eine devote Hausangestellte, früh verliert. Aus einer strengen Prager Klosterschule, wo Rosa nicht nur das Hohelied der Liebe sondern auch erste tiefe Gefühle für eine Mitschülerin entdeckt, flüchtet sie nach dem Selbstmord ihrer Freundin mit Flößern auf der Donau nach Wien.
Wien, zum Teil eine exemplarische Stadt, in der, wie wohl überall sonst auch, nicht nur ein Geschlechterkampf tobte, sondern ein offener, ständiger Krieg herrschte. Ein Krieg gegen Frauen. Wer das Pech hatte, wie Rosa arm und weiblich zu sein, hatte schlechte Karten.
Durch die naive Stimme der unbedarften Rosa beschreibt Faschinger die Verhältnisse, in denen Dienstmädchen in Wien lebten, ihren Kampf um die Existenz und die Ausweglosigkeit ihrer sozialen Stellung. Rosa erkennt das Unrecht, das ihr tagtäglich angetan wird, spät. Zwischen Schinderei ihrer Dienstherrin und sexuellem Missbrauch durch Dienstherren findet sie immer noch Zeit, vor Marienstatuen in diversen Wiener Kirchen Kerzchen anzuzünden.
Dienststellen sind schnell verloren und damit auch jedesmal die Unterkunft. Rosa landet wie viele andere im Wiener Kanalsystem und im Kriminal.
Markiert durch diverse Berührungspunkte des weiblichen Outlaws mit dem walzerseligen, schönen Wien der Jahrhundertwende, des Jugendstils und der Kaffeehausliteraten, ironisiert und konterkariert Faschinger bekannte historische Ereignisse. Die junge böhmische Frau geht nicht wie die Heerscharen von Geschlechtsgenossinnnen ins Wasser, sondern erlebt die unglaublichen Berg- und Talfahrten einer noch unglaublicheren „Karriere“: Sie wird Straßenmusikerin, Prostituierte, Geliebte des Kronprinzen, (der dann doch eine andere Geliebte mit in den Freitod nimmt), sie lebt kurze Zeit als gemarterte Freundin eines Dichters und Stammgastes des Café Griensteidl, sie erwartet ein Kind von einem Nervenarzt, der sich um die Pionierarbeit in der Psychoanalyse gebracht fühlt, weil ein gewisser Freud seine Ideen verwendet, und schließlich heiratet sie einen Mann, der krankhaft auf die Kaiserin Sisi fixiert ist. Dass der Inhalt unserer Geschichtsbücher hier oft in Feinheiten verändert scheint, kann man gelassen sehen, denn nicht umsonst hat Lilian Faschinger ihrem Roman ein wahres Wort vorangestellt: „Die Menschen lügen alle.“ (Psalm 116,11)
Aber auch die vielen Statistiken, die Faschinger über das gegenwärtige Wien zu berichten weiß, lassen Wiener Passion wirklich zu einer leidenschaftlichen Lese-Reise in eine Stadt werden.
Wiener Schicksalsorte und Beschreibungen des Klimas der Stadt lassen zeitliche Grenzen zwischen Magnolia, Josef und Rosa immer wieder verschwimmen.