#Roman

Wildwasser

Paulus Hochgatterer

// Rezension von Claudia Holly

Jakob ist siebzehn. Seine Schwester Franziska ist dreizehn, seine Mutter Kindergärtnerin, und sein Vater gilt als „verschwunden“.

Eines unerträglich heißen Tages im Sommer des Jahres 1995 (man fühlt sich an die atmosphärische Schilderung zu Beginn von Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ erinnert) begibt sich der Ich-Erzähler auf die Suche nach dem offenbar in den Wildwasserfluten umgekommenen Vater, der professioneller Paddler war.

Versorgt mit fünf kleinen, aufputschenden Briefchen (Marke pharmazeutische Spezialmischung) aus dem „Labor“ des Mitschülers Heinz König, schwingt er sich – ohne Wissen seiner Mutter – auf sein Mountainbike „Scott Yucatan“ und begibt sich auf eine Odyssee quer durch die Berg- und Tallandschaften südwestlich von Wien. Als ständigen Wegbegleiter hat er das „schwarz-silber gesprenkelte Kevlar-Paddel“ (S. 105), einziges Souvenir an seinen Vater, dabei.

Von den Drogen völlig in Trance versetzt, strampelt Jakob bis zur Besinnungslosigkeit, getrieben von Erinnerungen an seinen Vater. In traumartigen Rückblenden erfährt der Leser auch von der zeitweiligen Tablettenabhängigkeit Jakobs, den pubertären Sex- und Lustvorstellungen. Jakob wäre ein durchschnittlicher Siebzehnjähriger, der HipHop hört, sich markenbewußt kleidet und Probleme mit der stinknormalen Umgebung hat – gäbe es da nicht die auf mysteriöse Weise zerstörte Bindung zwischen ihm und seinem in der Erinnerung zum Helden stilisierten Vater (man erfährt nebenbei, daß der Sarg bei der Beerdigung leer gewesen sein soll). Um diesem Heldentum Rechnung zu tragen, erzählt er immer wieder die Kaukasus- oder die Griechenland-Story, in denen der Vater im Wildwasserstrudel Leben rettet.

Schließlich landet Jakob am Ufer eines Sees, wo er – bewußtlos – von einem Kaplan aufgelesen und in Pflege genommen wird. Dessen Mutter und die autistische achtjährige Judith geben das Personal für ein paar Tage Erholung ab, die damit enden, daß Jakob dem Geheimnis des Kaplans auf die Schliche kommt: Seine Zwillingsschwester Gertraud hat sich vor fast genau 23 Jahren die Adern aufgeschnitten und ertränkt.

Durch eine Art schicksalhafte Nähe miteinander verbunden, begleitet ihn der Kaplan gemeinsam mit Judith zu der Stelle, wo der Vater ertrunken sein soll.

Wildwasser wühlt in den seelischen Wunden eines Jungen, der durch den Verlust des Vaters in eine Identitätskrise geraten ist. Man lauscht gespannt seinen Träumen und Schimpftiraden, in der Hoffnung, daß er sich wieder fängt. Auch wenn die Suche ohne sichtbaren Erfolg endet, so doch wenigstens mit dem Entschluß, „das Paddel zu behalten“ (S. 111).

Paulus Hochgatterer Wildwasser
Roman.
Wien, München: Deuticke, 1997.
111 S.; geb.
ISBN 3-216-30323-3.

Rezension vom 10.11.1997

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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