#Sachbuch

Willy Haas und das Feuilleton der Tageszeitung "Die Welt"

Christina Prüver

// Rezension von Evelyne Polt-Heinzl, Christine Schmidjell

Beachtliche 1.463 Fußnoten auf 225 Seiten Fließtext – das macht die Untersuchung Christine Prüvers zur journalistischen Arbeit von Willy Haas nach 1945 untrüglich als Dissertation kenntlich, die das Risiko des aktuell kursierenden Plagiatsverdachts nicht eingehen will. Betreut wurde die Arbeit von Erhard Schütz an der Humboldt Universität Berlin, und man hätte der Autorin gewünscht, dass er sie zu großzügigeren Interpretationen ermuntert hätte. Denn an Akribie fehlt es der Arbeit nicht und auch nicht an brisanten Inhalten. Deshalb ist der Band lesenwert, auch wenn man sich manches zwischen den Zeilen herausholen muss.

Christine Prüver konzentriert sich auf das, was in der soeben erschienenen Monographie von Christoph v. Ungern-Sternberg: Willy Haas 1891 – 1973 (Edition Text und Kritik) das schmale letzte Kapitel ausmacht: Die Jahre nach seiner Rückkehr nach Deutschland, und hier geht es der Autorin ausschließlich um seine Tätigkeit bei der Zeitung „Die Welt“. Das zentrale Thema ist eigentlich die Dramatik des Remigranten-Schicksals inmitten einer Redaktion, die in nuce die Entwicklung der deutschen Nachkriegsgesellschaft spiegelt: statt der ausgerufenen Stunde Null, die schleichende und bald schon kecke Re-Installierung der alten PGs und auch SS-Kämpfer.

Willy Haas, geboren 1891 in Prag, startete bereits 1911 mit den kurzlebigen „Herder-Blättern“ sein erstes Zeitschriftenprojekt. Seinen Ruf erwarb er sich in der Folge als Mitarbeiter des Berliner „Film-Kurier“ und vor allem mit der „Literarischen Welt“, die er von 1925 bis 1933 herausgab. Dann musste er vor den Nationalsozialisten fliehen, zunächst zurück nach Prag, 1938 nach Indien, und über Großbritannien kehrte er 1947 56-jährig nach Deutschland zurück – als Controller im Auftrag der Presseabteilung des Foreign Office in der Redaktion der britischen Zonenzeitung „Die Welt“. Bis zu seinem Tod am 4. September 1973 blieb er der „Welt“ treu, auch nachdem sie 1953 von Axel Springer gekauft worden war: 1946 bis 1950 als Controller, 1950 bis 1953 als Freier Mitarbeiter, und ab 1953 als Redakteur. Exakt 2031 „Welt“-Beiträge von Willy Haas – Besprechungen, Glossen (unter dem Pseudonym Caliban), Kommentare, Gedenkartikel, Berichte – hat Christina Prüver für ihre Arbeit aufgefunden und im Anhang chronologisch aufgelistet.

Zwar hat Willy Haas in der Zeit auch in anderen Medien publiziert, war im Radio präsent und hat zahlreiche Bücher vorgelegt, aber alle Kollegen und Freunde, die im Buch zu Wort kommen, zeichnen das Bild einer „musealen Figur“, eines „Überbleibsels aus vergangener Zeit“ – so nennt ihn just Marcel Reich-Ranicki in einem Gespräch, das Christina Prüver am 12. Juni 2005 mit ihm geführt hat. Auch als „Axel Springers Vorzeigejude“ ist Willy Haas bezeichnet worden. Schon in seiner Funktion als Controller im Auftrag der Briten dürfte Willy Haas von herausragender Verbindlichkeit und Versöhnlichkeit, zumindest im Privaten, gewesen sein. Mehr und mehr füllte sich die Redaktion im Lauf der Jahre mit ehemaligen Nazis – was man als „zusammengewürfelte Mannschaft“ (S. 72) bezeichnen könnte, war eigentlich im Gegenteil erschreckend homogen, der einzige Alien war Willy Haas. „Allein seine Existenz in einem Ressort, das kaum einen Mitarbeiter besaß, der nicht im Dritten Reich aktiv gewesen war, erschien als Ausrufezeichen, nicht jedoch als erhobener Zeigefinger“ (S. 223), resümiert die Autorin gegen Ende des Buches.

Diese gleichsam exterritoriale Stellung sicherte Willy Haas eine gewisse Unantastbarkeit, auch Sympathie und eine Art Narrenfreiheit. Er war der, der die großen Autoren alle noch persönlich gekannt hatte, die mittlerweile – zum Teil im Exil – gestorben waren. Er galt als wandelndes Literaturlexikon, schrieb ein makelloses Deutsch und pflegte eine ebenso strenge wie konservative Textdramaturgie. Doch was er zu sagen hatte, wollte kaum jemand hören. Er publizierte Texte von im Exil Vergessenen wie Joe Lederer, schrieb Nachrufe auf Essad Bey oder Mechtilde Lichnowsky, nutzte jeden Gedenktag, um an verlorene Freunde zu erinnern, wie Franz Werfel, der Willy Haas in seinem letzten Roman „Stern der Ungeborenen“ ein Denkmal gesetzt hat. Dass Willy Haas daneben unermüdlich für eine „Aufarbeitung“ der NS-Vergangenheit plädierte und gegen das Vergessen des Vergangenen anschrieb, wirkt im Rahmen dieser Redaktion fast grotesk. Das hat Willy Haas wohl auch selbst gespürt, von seinem Sparbuch mit 50.000 Mark für den Fall einer neuerlich notwendigen Flucht, so berichtet seine Sekretärin, hat er sich nie getrennt. In seinen schriftlichen Resümees blieb Haas bei aller Direktheit oft erstaunlich zurückhaltend. „Die Wahrheit ist, daß der zweite Weltrkieg zunächst hundertmal leichter von unseren besten Literaten überwunden wurde, als der erste“, so dezent und doppeldeutig kann man die Enttäuschung über die de facto ausgebliebene Stunde Null auch ausdrücken.

Falls innerredaktionell politische Debatten stattgefunden haben, erfahren wir davon nichts – über externe Debatten ist ein wenig bei Ungern-Sternberg nachzulesen. Prinzipiell war es wohl einfach so, dass man den freundlichen alten Herrn wohlwollend sein Altenteil, das Redaktionsrecht auf Publikation seiner Beiträge, aussitzen hat lassen. Freilich trug auch die eigenartige Verschrobenheit seiner ästhetischen Urteile einiges zu seiner Außenseiterposition bei. Hofmannsthal ging ihm über alles, Werfel sah er als weltliterarisch bedeutsamer denn Kafka, von Rudolf Alexander Schröder erwartete er viel, Wilhelm Lehmann schätzte er hoch, aber immerhin auch Siegfried Lenz, dem er zum Abdruck seines ersten Romans verhalf. Die großen Debatten der Zeit gingen an Willy Haas überwiegend wohl ebenso vorbei wie am Feuilleton der „Welt“.

Christina Prüver beginnt ihre Arbeit mit der Fragestellung, ob das Feuilleton der „Welt“ am Wiederaufbau eines geistigen Fundaments in Deutschland maßgeblich beteiligt war und ob Willy Haas das Feuilleton nachhaltig beeinflusst hat. Sofern man die erste Frage im Sinne eines politischen Neuanfangs interpretiert, ist sie ebenso zu verneinen wie die zweite. Der unerfüllte Lebenswunsch Willy Haas‘ war ein Revival seiner „Literarischen Welt“. So wie man ihn nach der Lektüre dieses Buches einschätzt, hätte er sich über den Coup der „Welt“, die im November 1998 die erste Samstagsbeilage mit dem Titel „Literarische Welt“ präsentierte, tatsächlich gefreut.

Christina Prüver Willy Haas und das Feuilleton der Tageszeitung „Die Welt“
Sachbuch.
Würzburg: Königshausen und Neumann, 2007.
269 S.; brosch.
ISBN 978-3-8260-3680-4.

Rezension vom 19.11.2007

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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