#Roman

Wir könnten Dschungel sein

Isabella Feimer

// Rezension von Stefanie Jaksch

Und Ella geht

In ihrem jüngsten Roman taucht Isabella Feimer tief ein in den Dschungel Bogotás – und in das Seelenleben ihrer denkwürdigen und überraschenden Protagonistin Ella. Ein Text wie ein Flügelschlag, ein flirrender Deep Dive ins Herz einer grünen Finsternis.

Schlangen, Spinnen, Ungeheuer und ein Minotaurus: So manches furchteinflößende reale wie mythisches Getier kriecht, schleicht und windet sich durch den nach allen Himmelsrichtungen ausgreifenden Dschungel. Er ist gleichzeitig Ziel und Sparring Partner für Ella, eine junge Frau, die in dem kleinen Dorf Minca gestrandet ist. Dass sie eine dunkle Vergangenheit zu schultern hat, ahnt man schon früh – aber die Autorin Isabella Feimer lässt uns eine ganze Zeit lang im Ungewissen über die Vorgeschichte und die Gründe, die ihre Hauptfigur ausgerechnet nach Kolumbien verschlagen hat, ein Land, das unter den Vorboten einer blutigen Revolution erbebt.

„Ich will, seit ich in diesem Land bin, an diese Möglichkeit glauben, daran, dass es Portale gibt, daran, dass sie ein Weg sind, der parallel verläuft und den zu gehen man sich entscheiden kann“ (S. 66), sagt Ella und bereitet damit den brüchigen Boden, auf dem die Leser:innen sich mit ihr durch Wir könnten Dschungel sein bewegen werden. Raum und Zeit, so verspricht schon der lyrische Auftakt, haben alles andere „verschlungen“, und geschickt wird hier ebenfalls ‚la selva‘, der Dschungel, im Spanischen weiblich, als zweite Protagonistin eingeführt. Wo auch immer Ella sich aufhält, sind rankende Pflanzen, üppiges Dickicht und bedrohliche Flora und Fauna nicht weit.

Die Vergangenheit, die uns prägt

Feimers hoch rhythmische Sprache, die laut gelesen gehört und in der kein Wort zu viel ist, stellt uns Ella als leicht verlorene Seele vor, die gleich einem Floß durch den Ozean des Lebens driftet, von den Wellenbewegungen mal hierhin, mal dorthin getragen. Gestrandet ist sie in Kolumbien, wo sie seit einer Weile in einem Gästehaus aushilft, Spaziergänge mit dem Einheimischen Toni unternimmt, der ihr sehr zugetan ist, und dem Dschungel lauscht. Zugleich ist Ella aber eigentlich schon wieder auf dem Sprung, lässt aber achronologisch, in Assoziationsketten die Ereignisse der letzten Wochen, Monate und Jahre Revue passieren – und versucht im Erzählen selbst ein Muster zu erkennen, mit dem sie sich selbst auf die Spur kommen kann.

Schon bald verwachsen Ella und ‚la selva‘ zu einem hybriden Wesen: „Atme ich die Feuchtigkeit des Dschungels bewusst ein, wird ein Teil von ihm in mir weiterwachsen, denke ich und muss Augenblicke später lachen. Zartes Blattwerk in mir, unter dem sich Frösche und auch Käfer verstecken, Lianen, die sich in mir verknoten, Spinnennetze spannen sich, schon immer hatte dieser Dschungel einen Platz in mir, in dem er nisten konnte und Sterne brüten.“ (S. 113) Es ist eine „Aneignung des Dickichts“ (S. 87), die Ella anstrebt, um ihr inneres Ungeheuer zu zähmen, das sie seit ihrer Kindheit antreibt. Ein Ungeheuer, das, einer Hydra gleich, viele Köpfe hat.

In Rückblenden und Erinnerungsfetzen von Gewalterfahrungen nähert sich Ella dem Kern ihrer Rastlosigkeit und Entwurzeltheit: Nach und nach setzt sich aus Bruchstücken das Bild einer Kindheit mit einem erst gewalttätigen, dann absenten Vater und einer psychisch und körperlich schwer angeschlagenen Mutter zusammen. Als es für das junge Mädchen zu viel wird, die Mutter zu pflegen, schaltet sich die Tante ein: Sie bringt die Schwester in einem Heim unter und verpflanzt Ella nach Paris, nimmt sie bei sich und ihrem Ehemann Jean auf.

Die Gewalt, die in uns lebt

Es ist eine fremde Umgebung, eine verwirrende Stadt mit einer noch unverständlichen Sprache, in die Ella geworfen wird – in eine Wildnis der anderen Art: „Wie habe ich vergessen können, dass es schon damals ein Dschungel gewesen war, der mich in Empfang genommen hatte? (…) Ich fand mich in den Zeichnungen wieder, die im Eingangsbereich des Appartements der Tante, rechts und links den langen Korridor entlang, hingen. Die fein gearbeiteten Aquarelle luden in eine Welt, die es zu entdecken galt.“ (S. 127)

Doch Ella entdeckt noch etwas anderes: eine zerstörerische, ihr selbst nicht ganz geheure Kraft und Gewalt in sich. Und die fällt auch jemand anderem auf – ihrem Onkel Jean. Selbst ein Getriebener, wendet er sich ihr mehr und mehr zu, aus seiner Schutzbefohlenen wird im Lauf der Jahre seine Geliebte. Eindringlich und beklemmend sind die Passagen, in denen diese toxische, obsessiv-missbräuchliche Beziehung geschildert wird, der sich Ella nur durch Flucht zu entziehen vermag.

„Ne me quitte pas“, so klingt es Ella noch in den Ohren, während sie auf einem anderen Kontinent in den Armen eines anderen Mannes liegt. Santiago, der ‚Nightmonkey‘, wie er sich nennt, ist Teil der Revolution in Kolumbien und hat, so sagt er, schon immer auf Ella gewartet, „von klein auf hätte er mich geträumt, im Torbogen in der alten Schule, träumte mich verrankt, von Pflanzen bewachsen. Immer wusste er, wir würden einander tatsächlich begegnen, hier, sagte er und zeigte mir eine Tätowierung auf seinem Unterarm, tu eres eso, la muher que es la selva.“ (S. 177)

Die Frau, die der Dschungel ist

Santiago sieht, was sonst niemand zu verstehen scheint, und er ist in der Reihe an Männern, denen Ella begegnet, der Einzige, der keine noch in patriarchalen Systemen festsitzende, bemitleidenswerte Gestalt ist, der keine Besitzansprüche stellt, sondern ganz Ellas Kraft und ihren Entscheidungen vertraut. Und ihr damit den nächsten Schritt, hin zu sich selbst, ermöglicht, weil er weiß, dass Entwicklung nur so geht, denn Revolution und Leben sind eins für ihn: „niemand, sagte er, hört uns zu, niemand, wenn wir nicht entschiedener werden, wird uns je hören, no podremos cambiar nada“ (S.75).

Hier leidenschaftliches Spanisch, dort leidendes Französisch, eine Replik auf Englisch: Es ist ein vielsprachiges, feines Netz, das Isabella Feimer gewoben hat, in dem sich ihre Figuren mal verfangen, mal von einem Faden zum nächsten hangeln; und so wie Spinnennetze auch in der Realität eine außerordentliche Reißfestigkeit haben, so hält auch dieser Text trotz oder gerade wegen seiner Feingliedrigkeit das Wandern durch Raum und Zeit, durch Großstadt- wie tatsächlichen Dschungel souverän aus. Dazu passen auch die kurzen lyrischen Passagen, die den Text immer wieder unterbrechen, rhythmisieren, einen Moment innehalten lassen.

Die Menschen, die wir sein werden

Im Zentrum des Ganzen legt Ella nach und nach Ängste, traumatische Erfahrungen und Zweifel ab, in einem Land, das von Gewalt gezeichnet ist, aber dessen Menschen dennoch an ein Morgen glauben. Das Ungeheuer, vor dem sich Ella so sehr fürchtet, das sie immer wieder seine Schwingen ausbreiten, ihre Haut durchbrechen fühlt, erweist sich am Ende als freundlicher als gedacht: Es ist nicht die Krankheit der Mutter oder die eigene zerstörerische Gewalt, die sich hier Bahn bricht – sondern die Kraft einer Frau, die sich Raum nimmt, ihn sich zugesteht und eine Selbstwerdung zulässt, die von niemandem mehr abhängig ist. Ella ist also wirklich zu ‚la selva‘ geworden, ganz wild schlagendes Herz: „Ich sehe meinen Herzmuskel, losgelöst aus meinem Brustkorb, frei schwebend die pochende Masse an Blutgefäßen, Fasern und Sehnen.“ (S. 117)

Es sind nicht die Monster, die gewinnen. Was bleibt, ist der stete Schwirrflug der Kolibris, die Ella beobachtet, studiert, fasziniert durch den Tag verfolgt. Wir könnten Dschungel sein ist ein poetisches, vielschichtiges, feministisches Flirren, ein mutiges und auch radikales Statement einer Autorin, die dem Potenzial der Sprache vertraut und ganz bei sich angekommen ist. „Ich möchte gehen, ich habe es versprochen“, sagt Ella am Ende. Man darf gespannt sein, wo sie wieder auftaucht.

Stefanie Jaksch war einige Jahre als PR-Verantwortliche und Dramaturgin an deutschen Theatern tätig, seit 2011 lebt und liest sie in Wien, wo sie bis 2023 die Verlags- und Programmleitung für Kremayr & Scheriau innehatte. Die von ihr konzipierte Essay-Reihe übermorgen wurde u. a. mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch ausgezeichnet. Seit 2024 ist die Wortarbeiterin als freischaffende Moderatorin, Kuratorin und Lektorin unterwegs und hat das Büro für Kultur- und Literaturarbeit „In Worten“ gegründet. Im Herbst 2024 erscheint bei Haymon ihr Essay Über das Helle – sich selbst versteht sie als (ver-)zweifelnde Anfängerin in immerwährender Transformation.

Isabella Feimer Wir könnten Dschungel sein
Roman.
Wien: Braumüller Verlag, 2024.
208 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-99200-364-8.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 29.08.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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