#Roman
#Debüt

wir kommen

Liquid Center (Hg.)

// Rezension von Stefanie Jaksch

Sich entblättern im schützenden Kollektiv

„Die wievielte Pubertät durchlebe ich? Wann verstehe ich die Welt durch mein Verlangen? Viel Zeit bleibt mir nicht mehr. In meinem Verlangen sehe ich die ganze Welt brennen.“, (S. 18) heißt es in wir kommen, einem wunderbar wagemutigen Projekt des Literaturkollektivs Liquid Center. Die Autorinnen Verena Güntner, Elisabeth R. Hager und Julia Wolf haben sich hier zusammengefunden, um feministischen Fragestellungen in der zeitgenössischen Literatur Raum zu geben. „Das auch noch“, hört man da das oft immer noch männlich dominierte Feuilleton knurren, als ob diese Themen nicht eh schon prominent genug in die Verlagsprogramme und auf Buch- und Zeitschriften-Cover gehoben werden. Feminismus aller Orten, Göttin bewahre!

Es ist ein vielstimmiger und sich doch wie aus einem Guss lesender Text, der im Zusammenspiel von insgesamt 18 Autor:innen innerhalb von sechs Wochen Schreibzeit in einem Google-Dokument auf Einladung der drei Liquid Center-Autorinnen entstanden ist. Um Sexualität sollte es gehen, so die grundsätzliche Idee, ein geschützter Raum sollte sich öffnen unter dem Deckmantel der Anonymität, die allen Schreibenden zugesichert wurde. Und so umschlingt die Leser:innen gleich zu Beginn ein „Oktoflirt, ein Krakentanz“, aber „Lass uns langsam machen. Ich mag es, wenn sich deine Noppen sanft an meinem Körper festsaugen.“ wünscht sich gleich darauf eine der Autor:innen (S. 9) – ein glitschig-kluger Auftakt für einen Wirbelsturm aus Lust, Liebe, Trauer, Selbsterfahrung, Scham, Verschmelzung, Trost und Erkenntnis.

Die Versuchung ist anfangs groß, als Leser:in mit detektivischem Spürsinn den einzelnen Autor:innen auf die Schliche zu kommen; und natürlich weist der eine oder andere stilistische Kniff auf die eine oder andere Person hin oder es lässt sich alleine aufgrund der Erlebnisse auf das Alter der Autor:in schließen. Doch all das ist schon nach ein paar Kapiteln bedeutungslos – wenn man sich auf die Vielstimmigkeit einlassen kann und will, die einen durch die 36 Kapitel schaukelt. Und nur vordergründig geht es dabei um Sex und Sexualität. „Ich denke an die Figur der Hexe. […] Sie sollen uns das Fürchten lehren, aber je älter ich werde, desto mehr wünsche ich mir, wie sie zu sein.“ (S. 28), denkt eine der körperlosen Stimmen, und öffnet damit das Tor zu einem unter allem liegenden Thema: Wie tief verankert die Angst vor weiblicher oder als weiblich gelesener Kraft und dem daraus resultierenden Begehren auf vielen Ebenen ist – sowohl die der anderen als auch die eigene. Die Autor:innen in wir kommen schreiben mal bewusst, mal unbewusst gegen diese Angst an – obszön, wagemutig, sinnlich, nachdenklich, albern, lyrisch, provokant, nachdenklich: „Wie von Verletzlichkeit und Frust und Wut erzählen in dieser Sprache, die auf Distanzen geeicht ist, auf Unterschiede? […] Wie von Dingen sprechen, für die diese Sprache nicht gemacht ist?“ (S. 72)

Ob das Schreiben als Kollektiv gelingen kann, hinterfragen sogar die Schreibenden selbst. „Wer schreibt hier? Was schreibt hier, was ist hier am Werk? Stelle ich mich zu sehr ins Rampenlicht, sollte ich nicht im Chor verschwinden?“ (S. 57) Zweifel brechen auf, werden aber in der Gemeinschaft aufgelöst. Und das ist die unzweifelhafte Stärke dieser mitunter störrischen Text-Sammlung: Sie entwickelt besonders dort eine soghafte Wirkung, wo es zu Berührungen zwischen den Autor:innen kommt, wenn aufeinander reagiert, sich miteinander gefreut, gefühlt, gelitten wird, wenn die einzelnen Beteiligten zu einer Art Schwarmintelligenz, einem gemeinsamen Organismus mit verknüpfter Wahrnehmung werden. „Ich spüre eure Bewegungen, ich sehe hier und da verschwommen einen Körperteil, aber ich bekomme euch nicht ganz zu greifen“, (S. 71) heißt es da fast sehnsüchtig, oder glücklich, nachdem eine Person gerade Sex hatte: „Es hat sich angefühlt, als stündet ihr alle hinter mir.“ (S. 96)

Das mag dem einen oder der anderen ein bisschen zu viel des Guten sein, ist aber vor allem eins: die freudvolle, literarisch und stilistisch funkelnde Feier der Verbundenheit, der gemeinsamen Auseinandersetzung und, so paradox es klingen mag bei einem Projekt, wo sich die Beteiligten nie zu Gesicht bekommen, der Körperlichkeit. Denn auch wenn hier sprachmächtige und das Schreiben liebende Menschen am Werk sind, so sind ihre Texte eben nicht nur Zeichen im digitalen Raum, die ihren Weg in ein Buch finden: „Mein Körper schreibt immer mit. Er legt sein Wollen in die Wörter, wird angefacht, aufgescheucht durch das, was sich da in mir nach außen kämpft.“ (S. 144)

Und was sich da nach außen kämpft, ist nicht immer leicht zu lesen, aber auch ein großer Vertrauensbeweis der Autor:innen – sowohl den Herausgeberinnen als auch den Leser:innen gegenüber. „wir kommen“ erzählt eben auch von Gewalterfahrungen dieser schreibenden Körper, von Übergriffen psychischer und physischer Art zwischen Menschen jeden Geschlechts. So wird der Text ein Nährboden für Offenheit, für ein Sich-Entblößen, das niemals voyeuristisch oder ausstellend ist, sondern behutsam und vorsichtig Wahrheiten, Gefühle und Schmerz entblättert. Besonders still und eindrücklich gestaltet sich die Schilderung eines Missbrauchs in einer gewaltvollen Beziehung, auf die als Antwort steht: „Danke, dass Du das schreibst. Ich bleibe jetzt einfach sitzen bei diesem Text, der so wehtut. Bleibe in der Nähe.“ (S. 168)

Ob es eine Anthologie nicht auch getan hätte, ließe sich einwenden; ob feministische Themen nicht langsam auserzählt seien. Zu beiden Fällen: ein klares Nein. Sicherlich wirkt das ein oder andere Versatzstück ein klein wenig schematisch, was einem intensiven, umsichtigen Bearbeitungsprozess geschuldet sein mag, der notwendig war. Aber die fast biblische Wucht, die streckenweise entfacht wird, war sicherlich nur im Zusammenspiel und in der Freiheit der Form, die dem ganzen Projekt zugrunde liegt, möglich. Und was feministische Inhalte angeht: Wie kann irgendjemand darauf kommen, dass die Beschäftigung mit Gleichberechtigung, Gleichbehandlung und Respekt je irrelevant sein könnten? „die ‚befreiung‘ war eine aufforderung, dem männlichen begehren zu folgen und das weibliche diesem anzupassen, unter einsatz des eigenen körpers.“, (S. 165) stellt ein:e Autor:in fest, und nicht von ungefähr heißt es am ganz am Ende: „Ich wollte noch so viel schreiben. … Ich auch“ (S. 198). Ich hätte noch so viel lesen wollen. Und ich wünsche mir: Sie auch.

 

Stefanie Jaksch war einige Jahre als PR-Verantwortliche und Dramaturgin an deutschen Theatern tätig, seit 2011 lebt und liest sie in Wien, wo sie bis 2023 die Verlags- und Programmleitung für Kremayr & Scheriau innehatte. Die von ihr erdachte Essay-Reihe übermorgen wurde u. a. mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch ausgezeichnet. Seit 2024 ist die Wortarbeiterin als freischaffende Moderatorin, Kuratorin und Lektorin unterwegs und hat das Büro für Kultur- und Literaturarbeit „In Worten“ gegründet. Im Herbst 2024 erscheint ihr Essay Über das Helle – sich selbst versteht sie als (ver-)zweifelnde Anfängerin in immerwährender Transformation.

LIQUID CENTER (Hg.) wir kommen
Kollektivroman.
Köln: DuMont, 2024.
208 Seiten, Hardcover mit Lesebändchen.
ISBN 978-3-8321-6833-9.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch, Herausgeberinnen und Autor:innen

* Die Autor:innen des Kollektivromans: Lene Albrecht · Ulrike Draesner · Sirka Elspaß · Erica Fischer · Olga Grjasnowa · Simoné Goldschmidt-Lechner (sgl) · Verena Güntner · Elisabeth R. Hager · Kim de l’Horizon · I.V. Nuss · Maxi Obexer · Yade Yasemin Önder · Caca Savić · Sabine Scholl · Clara Umbach · Julia Wolf · und zwei Autor:innen, die anonym bleiben wollen

Rezension vom 06.06.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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