Ein junger aufstrebender Arzt verschwindet; seine Schwester, seine Verlobte und seine Mutter rätseln über seinen Verbleib und rollen dabei die Familiengeschichte auf. Wie sich herausstellt, ist es nicht das erste Mal, dass Alan ohne Abschied aufbricht: Bereits als junger Erwachsener hatte er kurz vor der Wende das Elternhaus in der tschechoslowakischen Heimat verlassen und sich in den Westen aufgemacht, nach Deutschland und später nach Wien, wo er zunächst eine Stelle als Hilfsarbeiter fand, anschließend Medizin studierte und Arzt wurde. Wagemutig und weniger zögerlich als seine Eltern und seine Schwester Miša, hatte er an den Aufstieg und die Chancen in der neuen Heimat geglaubt. Umso härter treffen ihn anschließend auch Kränkungen und Niederlagen.
Gekonnt spielt die Autorin mit der Erzählperspektive: Der Protagonist bleibt für den größten Teil des Romans ein Besprochener, sodass sich zwischendurch die Frage stellt, ob er überhaupt als Protagonist gelten kann. Vielmehr rücken die Frauen, die von ihm erzählen, also seine Schwester Miša, seine Freundin Nora und seine Mutter Nini, mit ihren eigenen Schicksalen und Problemen in den Mittelpunkt. Dabei wird anschaulich, dass das Erzählen über einen anderen immer auch ein Erzählen über sich selbst ist. Wie sehr definiert das Umfeld, wer man ist und wie man sich zu verhalten hat? Muss man manchmal flüchten, um sich den Zuschreibungen seiner Umgebung zu entziehen, und kann man an einem fremden Ort wirklich neu anfangen und ein ganz anderer sein? Allegorisch fügt Alans Verlobte Nora diesem Thema noch einen weiteren Aspekt hinzu: Während sie für ihre Doktorarbeit im Labor an depressiven Mäusen forscht, treibt sie die Frage um, inwiefern psychische Erkrankungen und Traumata von einer Generation an die nächste weitergegeben werden.
Nur in wenigen Szenen lernen wir Alans Innenperspektive kennen und erfahren von seinen Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Bereich. Dem jungen Arzt, der sich in seinem Beruf „eher als Techniker“ (S. 174) versteht, fällt es schwer zu akzeptieren, dass die Patienten während der Untersuchung oder der Behandlung auch mit ihm reden wollen. Während des Abendessens mit seiner Verlobten ist er taub für ihre Probleme und skizziert auf der Telefonrechnung, die neben dem Teller liegt, die Hüftverletzung einer Patientin. Als Nora alleine auf Urlaub fährt, freut Alan sich über die Gelegenheit, endlich ohne schlechtes Gewissen Überstunden machen zu können.
Reizvoll ist zudem die gegensätzliche Charakterisierung des Geschwisterpaares: Während Miša von einem Lebensentwurf zum nächsten taumelt, sucht Alan zielstrebig und pflichtbewusst den beruflichen Erfolg und bemüht sich, durch übermäßige Anpassung die Hürden wettzumachen, die sein Migrantenstatus ihm auferlegt. Treffend sagt Nora an einer Stelle zu Miša: „Dein Bruder hat alle Hände voll damit zu tun, nicht die Art Migrant zu werden, die er nie war.“ (S. 238)
Im Laufe des Romans bekommt diese Zuschreibung jedoch zunehmend Risse. Alans wiederholtes Verschwinden wirkt wie ein Kontrapunkt, wie ein Einspruch gegen seinen scheinbar glatten Weg. Umgekehrt zeigt sich in Mišas Biografie eine überraschende Konstanz. Zwar kann sie sich für kein Studium dauerhaft entscheiden und wechselt häufig den Arbeitsplatz, weiß aber erstaunlich gut über ihre Qualitäten Bescheid und hat ein Händchen dafür, immer wieder Jobs zu finden, die ihr liegen und mit denen sie sich gut über Wasser halten kann. Wem von beiden das Leben tatsächlich leichter fällt, Alan oder Miša, bleibt letztendlich schwer zu beantworten.
Überzeugend gelingt es Susanne Gregor, die Vielzahl unterschiedlicher Themen, Perspektiven, Schauplätze und Erzählzeiten unter einen Hut zu bringen. Schwierige Inhalte so leichtfüßig und unterhaltsam darstellen zu können, zeugt von großem erzählerischen Talent und Können.