Der Keim des vorliegenden Wörterbuchs geht auf eine unpublizierte Sammlung des Wiener Humoristen Rudolf Stürzer (1865-1926) zurück, die nach dessen Tod von Franz Hoeftberger weiter bearbeitet wurde. 1967 wurde diese Sammlung nach langer Vergessenheit Maria Hornung zur Publikation übergeben. Da ein Vergleich mit existierenden Wörterbüchern der Wiener Mundart (Jakob, Schuster u. a.) ergab, daß das Manuskript größere Deffizienzen enthielt, entschloß sich die Autorin zu einer vollständigen Überarbeitung des Manuskripts und einer kompilierten Neufassung unter Einbeziehung aller vorhandenen Wörterbücher. 1972 kam mit der handschriftlichen Wiener Wörtersammlung aus dem Privatbesitz von Albert Krassnigg ein gewaltiger Materialzuwachs hinzu. Entstanden ist schließlich nach mehr als drei Jahrzehnten sammelnder und ordnender Tätigkeit ein beeindruckendes Standardwerk zur Wiener Mundart der letzten 100 Jahre, mit über 15.000 Eintragungen ohne Zweifel das bisher umfassendste und zudem von seiner Anlage auch das ansprechendste. Die einzelnen Eintragungen beschränken sich nämlich nicht auf Worterklärungen, sondern enthalten durchgängig Angaben von Etymologien und Synonymen sowie eine sorgfältige Auffächerung der Bedeutungserklärungen in ihre historischen Schichten. Die Ausdifferenzierung der Worterklärungen in altwienerisch (aw, bis zum Ende des Ersten Weltkriegs), neuwienerisch (nw, bis 1945) und jungwienerisch (jw, bis herauf in unsere Tage) verleiht vielen der Worterklärungen eine besondere kulturhistorische Tiefendimension. Selbst allerjüngste Errungenschaften unserer Zivilisation sind bereits in ihrer Anverwandlung durch den Wiener Dialekt zu finden. So ist das „Gwidschal“ nicht nur ein Kinderspielzeug, sondern (jw) auch ein „drahtloses Telefongerät“ mit den Synonymen „Guakn“ und „Hendi“; „dscheckn“ (jw) für „überprüfen“ fehlt ebensowenig wie die „Dölefonítis“.
Damit sind wir beim zentralen Problem dieses Wörterbuchs: Die Alphabetisierung der Stichworte folgt der mundartlichen Lautung, deren Schreibweise der Sprachlehre der Wiener Mundart von Schuster / Schikola (1956 / 1984) folgt. Zwar werden die Prinzipien der gewählten Lautschrift auf drei vorangestellten Seiten in Umrissen erklärt, aber ein lexikalisches Suchen wird für den Nicht-Fachmann doch eher schwer, und beim neugierigen Blättern gerät man vielfach ins Rätselraten, was durchaus spannungssteigernde Qualitäten mit sich bringen kann. Wörter wie Feinschbids, Grobffdiachchl, Heffdsweckal, Khaschbal, Khobfwe, Khochleffe, Khoibrockaln, Madabötssl oder Reíwadsiwü machen weniger Verständnis- als – zumindest auf den ersten Blick – Leseprobleme. Freilich bekommt man diese Anfangsschwierigkeiten bei längerer Lektüre rasch in den Griff, und übrig bleibt das Vergnügen an den differenzierten und nuancenreichen Facetten des Wienerischen mit seiner Fülle an Ausdrücken für menschliche Befindlichkeiten, Kulinaria, Schimpfwörter und lautmalerischen wie bildhaften Umschreibungen für alle Zustände der Welt, von denen man vielen älteren eine Reanimation wünschen würde (etwa das wunderschön weltoffene „Dscheikal“ für Tee). Sucht man nach einem bestimmten Wort, ohne fündig zu werden, heißt das noch lange nicht, daß dieser Ausdruck wirklich fehlt. Wenn man etwa den „Semmegnedl“, auf den beim „Gnedl“ verwiesen wird, bei der „Semme“ nicht findet, muß das noch nichts bedeuten. In der Regel lassen sich aber alle Verweise quer durch das Alphabet durchwandern, und nicht selten eröffnet sich schon beim Verfolgen einer Synonymenkette ein beeindruckender sprachlicher wie kulturhistorischer Fundus. Der harmlose „Beck“ oder „Becka“ kann zum „Bauntssalwudsla, Dodschalbeck, Dodschnbochcha, Dagoff, Dsuckabochcha, Goládschnbeck“ oder „Khippfedrakssla“ mutieren. Manchmal blitzt auch die besondere Philosophie des Wienerischen durch, wenn der „Dschechchara“, das ist die schwere Arbeit, seine nahe Verwandschaft zum „Dschéchcharánt“, das ist der Säufer, nicht verleugnen kann.
Es ist zu befürchten, daß Ausstattung und Preis dieses schwergewichtigen Lexikons einer größeren Verbreitung entgegenstehen. Das ist umso bedauerlicher, als Maria Hornungs Wörterbuch in bestem Sinne nicht nur als wissenschaftliches Lexikon benutzt werden kann, sondern dem Fachmann wie dem Laien auch pures Lesevergnügen bereitet. Für den Literaturwissenschafter ein wenig bedauerlich – aber von der Genese dieses Mammutwerkes her mehr als verständlich – ist die Tatsache, daß Belegstellen für angeführte Zitate namentlich aus der Altwiener Literatur (Nestroy, Raimund etc.) nicht nachgewiesen werden konnten, da derartige Hinweise in den übernommenen Sammlungen (Stürzer, Hoeftberger, Krassnigg) durchgängig fehlten.