Seine Geschichte von Vertreibung, häufigen Umsiedlungen und dem ständigen Fremdsein, eine exemplarische Geschichte der Wolgadeutschen – so werden Russlanddeutsche auch genannt – dürfte den meisten deutschsprachigen Lesern wenig bekannt sein. In diesem Roman öffnet sich fast nebenbei die ganze Tragik dieser Volksgruppe. Dennoch wäre es falsch, die Geschichte Alexandrs und sein kompliziertes Verhältnis zu seinem Heimatland – der Sowjetunion – und dem selbst kaum erinnerten Land des Vaters, der Wolgaregion, für das Zentrum des Romans zu halten. Die weiteren Figuren mit ihren Verwerfungen und Verstrickungen sind nicht minder wichtig als der alte, eigenbrötlerische Musiker und sein relatives Fremd- wie doch auch Heimischsein in einem niederösterreichischen Ort.
Da ist die etwa 40-jährige, äußerst attraktive Lana, die zwei Berufen nachgeht, eine halbherzige und schon etwas festgefahrene Beziehung zu Georg führt und sich von ihrer Mutterschaft befreit hat, indem sie nach der Scheidung ihren Sohn bei seinem Vater in Nizza zurückgelassen hat und selbst wieder an den Ort ihrer Kindheit zurückgekehrt ist. Sehr überzeugend zeichnet Steinbacher hier das Bild einer Frau, die sich ihrer Anziehungskraft bewusst ist und im Prinzip mit jedem Mann aus ihrem Umfeld, ganz egal, wie jung oder wie alt er ist, in einem unausgesprochen erotischen Verhältnis steht. Während ihr die Entfremdung des eigenen, noch kindlichen Sohnes doch schlechtes Gewissen bereitet, entwickelt sie langsam Interesse für die bereits 15-jährige Tochter Georgs, zum großen Missfallen des alleinerziehenden Vaters. Auf sehr subtile Weise wird hier – auch anhand weiterer Figuren – eine der größten Sehnsüchte des Menschen deutlich: einen Menschen ganz für sich zu haben, ob im freundschaftlichen, erzieherischen oder sexuellen Sinne.
Nicht minder ausgeprägt ist bei anderen Figuren die Sehnsucht, sich (erfolgreich) künstlerisch zu betätigen. Da ist etwa der Mittzwanziger Jonathan, dessen Prosaskizzen zu alten Fotografien, die ihm von den Dorfbewohnern freiwillig überlassen werden, tatsächlich literarisches Potenzial haben. Der sensible junge Mann betätigt sich auch als bildender Künstler und Fotograf, allerdings erst nach einem vollen Arbeitstag im elterlichen Betrieb, einer Werkzeugproduktionsstätte. Wenngleich es ihm schon gelungen ist, immerhin eine eigene Wohnung zu mieten, verbleibt er im starken Einflussbereich der besorgten Eltern, die seine Homosexualität schon seit Längerem erahnen. Als unerwartet ein weiterer Russlanddeutscher in den Ort kommt – der auffallend schlanke und schöne Abel, Sohn des Ehepaares Miller – kann Jonathan nicht mehr an sich halten und geht aufs Ganze. Seine Obsession für den geheimnisvollen jungen Mann nimmt immer mehr Besitz von ihm, er beginnt, dem fremden Schönling nachzuspionieren und verliert dabei jeden Realitätsbezug. Dabei wird Lana, die die selbstbewusste russlanddeutsche Familie bereits einmal in ihrer neu erworbenen und gerade in Renovierung begriffenen Villa besucht hat, zur einzigen Komplizin des zunehmend verzweifelten und verwirrten Jonathan, ohne ihn irgendwie sympathisch zu finden. Indes finden Jonathan, Lanas Freund Georg sowie eine Reihe anderer Männer immerhin etwas Trost im Chorgesang und in der regelmäßigen Geselligkeit nach den Proben.
Wie in jedem guten Roman bleibt nichts, wie es war. Die jüngeren Figuren zerbrechen an den Zwängen ihrer Herkunftsfamilien oder befinden sich noch auf der Suche nach sich selbst und den eigenen Neigungen und Interessen; die älteren spüren bereits die ersten Anzeichen des Alters, etwa kleine Gedächtnisaussetzer. Ein absoluter Bewusstseinszerfall samt Halluzinationen und scheinbarem Gedächtnisverlust befällt aber auch den nach einer gerichtlichen Verurteilung zunehmend in völlige Isolation geratenen Jonathan. Der körperlich-geistige Zustand des schon nicht mehr rüstigen, noch dazu allein lebenden Alexandr droht sich auch schlagartig zu verschlechtern, gerade als er beschließt, endlich in die uralte Wolga-Heimat zu reisen. Steinbacher erweist sich als Meisterin für Schilderungen solch beängstigender Zustände teilweise psychotischer und psychosomatischer Natur; sie versteht es aber ebenso, das Ersehnte oder auch Gefürchtete fast bis zur Ununterscheidbarkeit mit dem realen Geschehen verschmelzen zu lassen.
Wolgaland präsentiert ein hochinteressantes Geflecht von sehr unterschiedlichen Figuren, deren Alltagsleben in dem kleinen Ort scheinbar etwas Bodenständiges hat; ihre geographischen Ausläufer bis nach Sibirien und Südfrankreich lassen sie allerdings alles andere als provinziell wirken. Diese Männer (und wenigen Frauen) leiden an den eigenen oder noch mehr an den Unzulänglichkeiten ihrer Mitmenschen; sie verspüren klare wie undeutliche Wünsche und erinnern sich an vergessene Enttäuschungen; sie genießen aber auch ihre absolute Unabhängigkeit und gehen ihren Weg, koste es, was es wolle. Eine derart heterogene, ausdifferenzierte Figurenkonstellation wie die stets spannend bleibende, einnehmende Handlung an einem unbedeutenden Ort und im Verlauf von höchstens einem halben Jahr unterzubringen, ist eine außerordentliche literarische Leistung. Die junge Autorin, die schon mit ihrem Erzählband Schalenmenschen von sich reden gemacht hat, kann mit diesem genau recherchiertem und stilistisch wie psychologisch hervorragenden Roman schon jetzt mit mehreren Auszeichnungen rechnen.