Diesen Anspruch empfand Thomas Mann als anmaßend, und er lehnte die Einladungen in äußerst scharfer Form ab. Am 12.10.1945 veröffentlichte er den Aufsatz Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe, in dem er Thiess, Molo und alle anderen Schriftsteller, die Nazideutschland nicht verlassen hatten, der Mitschuld an den Verbrechen der Nationalsozialisten bezichtigte: „Es mag Aberglaube sein“, so schrieb er, „aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an: sie sollten alle eingestampft werden.“
Dieses strenge Urteil über die Repräsentanten der – heute meist in Anführungsstrichen gesetzten – „inneren Emigration“ hat sich seit den sechziger Jahren in der Germanistik weitgehend durchgesetzt, was unter anderem auch auf Thomas Manns Autorität zurückzuführen sein dürfte. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren nahmen die Autoren, die in Deutschland geblieben waren, Thomas Manns harsche Kritik freilich nicht hin. In mehreren Zeitungsartikeln legten sie dar, daß Autoren wie Hans Carossa, Werner Bergengruen, Kasimir Edschmid, Ernst Wiechert u. a. sehr wohl Bücher geschrieben hätten, an denen kein „Geruch von Blut und Schande“ hafte. Unter dem Titel Die große Kontroverse sind alle diese Beiträge später als Buch gesammelt und noch später vor allem als Beweise für die Verstocktheit der Daheimgebliebenen herbeizitiert worden.
Auch Jost Hermands sachkundige Einleitung zum neu erschienenen Buch „Wollt ihr Thomas Mann wiederhaben?“ referiert die große Kontroverse mit entschieden kritischer Spitze gegen die Gegner Thomas Manns. Darüber hinaus dokumentiert der Band jedoch auch eine kleine Episode, die bis dato nicht bekannt war. Wie Hermand ebenfalls darlegt, verfolgte die amerikanische Militärregierung die Debatten um Thomas Mann (und andere Emigranten) sehr genau, weil sie sich mit dem Gedanken trug, die emigrierten Autoren gezielt für die „Re-Education“-Programme einzusetzen. Freilich war man sich nicht sicher, ob die Deutschen ihre ehemaligen Landsleute als „Umerzieher“ akzeptieren würden. Um darüber genaueren Aufschluß zu erhalten, wurde 1947 in den größeren Städten Bayerns eine Umfrage veranstaltet, die sich auf die besagte Frage zuspitzen läßt: „Wollt ihr Thomas Mann wiederhaben?“
Umrahmt von Jost Hermands Einleitung und Wigand Langes Kommentar, liegen die Ergebnisse dieser Enquete nun als Buch vor. Wer sich von den ausgefüllten Fragebogen ein besseres Verständnis der Werke Thomas Manns erwartet, wird freilich enttäuscht werden, denn eine sehr genaue Kenntnis des Mannschen Werks kann kaum einer dieser Nachkriegsdeutschen für sich in Anspruch nehmen. Um so aufschlußreicher sind ihre Antworten jedoch als Auskünfte über ihre eigene Seelenverfassung. Von den amerikanischen „Investigators“ wurden nicht etwa alte Nationalsozialisten befragt, sondern Politiker, Kulturfunktionäre und Künstler, die als politisch „unbelastet“ galten und denen eine führende Rolle beim Aufbau der neuen Demokratie zugetraut wurde. Ihre Antworten auf die Frage, ob man die Emigranten zurückholen solle oder nicht, fallen denn auch keineswegs ideologisch verbohrt aus. Das Spektrum reicht von unbedingtem Ja bis zu absolutem Nein, mit vielen Nuancen und Einschränkungen dazwischen.
Mentalitätsgeschichtlich interessant sind die Aussagen aber vor allem aus folgendem Grund: So nuanciert und vorsichtig sich die werdenden Demokraten gegenüber der Besatzungsmacht auch ausdrücken, so deutlich wird doch, wie schwer es ihnen fällt, die Emigranten nicht als Verräter anzusehen. Zwar sagt das keiner der Befragten in dieser Klarheit, doch kommt es in all den Vorbehalten und Ressentiments zum Ausdruck, die insbesondere gegen Thomas Mann aufrecht erhalten werden: Er, der in früheren Jahren selbst ein nationalromantischer Konservativer gewesen sei, habe kein Recht, als Präzeptor in Sachen Demokratie aufzutreten – zumal er „als Amerikaner“ nicht mehr wirklich zum deutschen Volk gehöre. Falls er also zurückkommen wolle, solle er sich möglichst auf seine unbestreitbar bewundernswerten künstlerischen Fähigkeiten beschränken und sich nicht in die Politik einmischen. So kehren alle Argumente der großen Kontroverse auch in dieser kleinen Umfrage wieder.
Die Fragebogen, die in Hermands und Langes Buch dokumentiert sind, zeigen also einmal mehr, daß sich 1947 selbst die gutwilligsten Deutschen nur unter Schwierigkeiten mit ihren emigrierten Landsleuten auseinandersetzen konnten – wobei nicht das geringste Problem darin bestand, daß sie die Ausgewanderten gar nicht mehr als Landsleute empfanden. Aber beweist nicht Thomas Manns überaus polemische Antwort auf Molo und Thiess – die ihn immerhin zur Rückkehr eingeladen hatten – daß das umgekehrte Verhältnis auch nicht einfacher war? „Bewältigung der Vergangenheit“, so denkt man sich nach der Lektüre dieser Dokumente, ist keine Angelegenheit von schnellen Umerziehungs- und Anpassungprozessen, sondern von langfristigen Mentalitäts- und Gefühlsveränderungen. Wer sie verstehen will, sollte nicht nur die Werke Thomas Manns studieren, sondern auch die Äußerungen seiner Kritiker. Das neue Buch von Hermand und Lange bietet dazu eine gute Gelegenheit.