Dennoch ist hier ein sehr informatives und in der Form der Fragestellungen bislang wohl einzigartiges Buch entstanden, welches sich eine sehr komplexe Aufgabe gestellt hat: das Theater in Wien nach 1945 soll in all seiner Widersprüchlichkeit aufgearbeitet werden; vor allem aber soll das Jahr 1945 nicht als Stunde Null verstanden werden; vielmehr ist es Anliegen fast jedes Beitrages, die Situation nach 1945 als Folge der Ereignisse davor zu erklären.
Der erste und der letzte Beitrag des Bandes stammt von Zeitzeugen: die Einleitung bildet ein Essay von Fritz Kreissler, der die These von drei Exilphasen (vor 1938, 1938-45, nach 1945) formuliert und sie an verschiedenen Autorenschicksalen zu verdeutlichen sucht. Den Abschluß bildet ein Interview mit Otto Tausig über die damalige Zeit. Innerhalb dieses Rahmens finden wir Beiträge vorwiegend jüngerer Wissenschaftler verschiedener Disziplinen zu einzelnen Theatern (Burgtheater, Josefstadt usw.), zur Kulturpolitik der Alliierten und der österreichischen Regierung, zum Thema Theaterkritik, zu einzelnen Theaterpersönlichkeiten, zu Organisationsproblemen, Strukturen, Inhalten, Spielplänen der Theater usw. – es wurde wirklich an fast alles gedacht.
Es entsteht jedoch der Eindruck, daß nicht alle Mitarbeiter ihre Beiträge mit der gleichen Energie und Gewissenhaftigkeit verfaßt haben. So wirkt Johannes Sachslehners Beitrag über die Reaktionen auf die 1948er Aufführung von Geschichten aus dem Wienerwald oberflächlich neben der detaillierten Darstellung der Leistungen von Stella Kadmon (nicht nur nach 1945!) durch Birgit Peter oder Evelyn Deutsch-Schreiners fundierten Ausführungen über das Volkstheater. Ebenso bemüht sich Wolfgang Greisenegger kaum, der Rolle Franz Theodor Csokors gerecht zu werden, während Karl Müller in einer überaus ausführlichen Analyse versucht, das Fortbestehen der Beliebtheit von Max Mells und Friedrich Schreyvogels Werken nach 1945 zu erklären.
Wie gesagt, sind die Beiträge in ihrer Deutlichkeit und in ihrem Informationsgehalt sehr unterschiedlich gestaltet, fast alle weisen jedoch ausdrücklich darauf hin, daß die Künstler aus dem Exil in Österreich nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen wurden, oft sogar Altnazis gegenüber schlechter gestellt waren.
Hoffentlich gibt es ein derartiges Buch bald auch zu den übrigen österreichischen Theatern.