Die Häuser darüber sind zwar noch weitgehend intakt, doch macht der ewige Wind die Wenigen, die sich ihm dauerhaft aussetzen, mit der Zeit verrückt. Nur an den sogenannten Maitagen, wenn die Stürme sich legen und die Sonne für ein paar Stunden hervorkommt, vermittelt sich den Menschen so etwas wie eine lebenswerte Umwelt, die freilich auf einen engen Umkreis von wenigen Kilometern beschränkt bleibt. Kontakte zur Außenwelt bestehen nur durch gelegentlich Durchreisende, welche von den Sesshaften misstrauisch beäugt werden. Technisches, wissenschaftliches und kulturelles Wissen ist im Lauf der Jahrhunderte verkümmert.
In diesem zeit- und ortlosen Setting, irgendwann und irgendwo in einem postapokalyptischen Österreich, spielt sich die Handlung ab: die junge Silvia, die sich in ihrem anspruchslosen Leben und einer freigewordenen unterirdischen Wohnung eingerichtet hat und froh ist, endlich ihrer wenig zugewandten Mutter entronnen zu sein, findet eines Tages ein Neugeborenes auf ihrer Türschwelle. Trotz aller Widrigkeiten, die dies für sie bedeutet, entschließt sie sich, das Kind zu behalten und aufzuziehen.
Der Junge, den Silvia Darko nennt (was im Slawischen soviel wie „Geschenk“ oder auch „Begabung“ bedeutet) wächst heran, beginnt seine Streifzüge durch die unwirtliche Welt, träumt von der Ferne, von Reisen und Erfahrungen. Seine Bekanntschaft mit einigen Außenseitern der städtischen Gesellschaft führt schließlich dazu, dass er mit den neugewonnenen Gefährten tatsächlich den Aufbruch wagt. Doch kaum unterwegs, beginnt er zu ahnen, dass ihn nirgendwo wirklich ein anderes Leben erwarten wird. Er akzeptiert seine Existenz, so wie sie vorbestimmt erscheint: „Mehr musste er nicht wissen. Mehr musste niemand wissen. In der Stadt zu sein, mit den anderen, einfach dahinzuleben. Darin, verstand Darko, lag aller Sinn.“
Mit diesen Worten endet zwar das Buch, doch ganz und gar nicht das Nachdenken darüber. Von der vermeintlich eindeutigen Zeigefinger-Botschaft dieser letzten Worte sollte man sich nicht täuschen lassen. Es wird nämlich dessen ungeachtet nicht klar, was denn nun die vom Autor intendierte Quintessenz des gerade Gelesenen sein mag. Ist das nun eine Warnung an uns Heutige, es nicht soweit kommen zu lassen? Eine Idealisierung der Genügsamkeit oder ihre unterschwellige Infragestellung? Und in Bezug auf den Protagonisten Darko stellt sich die Frage: Ist das ein Entwicklungsroman oder sein Gegenteil?
Schon Uhrmanns Titelwahl wirkt so programmatisch, als handele es sich um einen Essay, eine meinungsstarke Vorhersage der Zukunft, wohl abgewogene Verknüpfungen, die theoriegeladene Weltentwürfe transportieren. Doch herausgekommen ist ein stilistisch eher konventioneller und dadurch flüssig zu rezipierender Roman, der seiner Lesegemeinde ganz im Gegenteil nur sehr wenige Anhaltspunkte liefert, welche Ereignisse zum Zusammenbruch der Zivilisation geführt haben. Das ist auch nicht notwendig, denn erstens haben uns schon so viele fiktionale Erzählansätze alle möglichen Beispiele hierfür serviert, und zweitens haben, ganz praktisch für den Plot, auch Uhrmanns Figuren keine oder kaum Kenntnis davon. Nur die nackten Realitäten spielen für sie eine Rolle, und ihre überwiegend völlig ehrgeizlose Lebensweise, die sich mit dem begnügt, was an Überkommenem noch funktionsfähig ist, kann nur aufgehen, wenn es keine zu hohen Geburtenraten gibt.
Vor allem aber existiert das nicht näher hinterfragte Phänomen des sogenannten „Ausgleichs“: Ab dem Eintritt in die Pubertät schwindet bei allen Mitgliedern der Gemeinschaft das Bedürfnis, Nahrung zu sich zu nehmen. Nur die Kinder müssen essen, bis sich ihre körperliche Entwicklung dem Abschluss nähert. Uhrmanns Lesepublikum kann allenfalls ahnen, dass diese Modifikation menschlichen Lebens wohl genetisch bedingt sein und keine erwachsene Person mehr Nahrung zu sich nehmen muss; wer als Erwachsener noch (heimlich) isst und defäkiert gilt als verachtungswürdig, kann sein Laster nicht im Zaum halten. Die Leute können kaum glauben, dass frühere Generationen ihr Leben lang von Nahrung abhängig gewesen sein sollen – wie hätte das Wenige für so viele reichen sollen? Ihr Vorstellungsvermögen reicht an die Exzesse unserer heutigen Überflussgesellschaft gar nicht mehr heran.
Mit Geschlechtsverkehr hingegen scheint die städtische Romangemeinschaft etwas lockerer umzugehen. Institutionen wie die Ehe spielen offensichtlich kaum eine Rolle, die wenigen Kinder scheinen in der Regel eher in Familienverbänden großgezogen zu werden. Die Mehrzahl dieser Familien lebt auch außerhalb der inneren Stadt, wo sich, um den sogenannten Kerzenmarkt, das angesehenste Wohnviertel befindet.
Staatlichkeit und Rechtsordnung im Sinne unserer heutigen Vorstellung existieren nicht. Dennoch gibt es Hierarchien, die das Romanpersonal kaum je in Frage stellt und denen es sich unterordnen muss, um nicht aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden und eine halbwegs erträgliche Wohnung zu bekommen und zu behalten: So herrscht die Vorsteherin des Hauses, in welchem Silvia und Darko leben, beispielsweise ziemlich willkürlich, wie sie ihr Amt bekam, erfährt man nicht.
Überhaupt scheinen die Figuren merkwürdig lethargisch, es genügt ihnen, relativ stumpf und ohne wie auch immer geartete Höhepunkte, oft zurückgezogen von den Anderen, ihr Dasein zu fristen. Entsprechend blass bleiben auch die beschriebenen Figuren. Arbeit verrichten nur diejenigen, die etwas brauchen, und das sind die wenigsten. Neid und Missgunst etwa aufgrund sehr unterschiedlicher Wohnverhältnisse gibt es gleichwohl.
Uhrmann beschreibt insgesamt weder eine idealisierte Vorführgesellschaft noch eine komplett unerträgliche, unbedingt zu überwindende Lebenswelt. So schwankt der Roman auf dem schmalen Grat zwischen Utopie und Dystopie. Was davon letztendlich überwiegt, ist mit der Lektüre von Uhrmanns Zeitalter ohne Bedürfnisse wohl nur jeweils ganz individuell zu entscheiden.
Marcus Neuert, geboren 1963 in Frankfurt am Main, Studium der Kulturwissenschaften an der FU Hagen, lebt und arbeitet nach langjährigen Stationen in Hessen und Baden-Württemberg als Autor, Musiker, Literaturkritiker und Kulturarbeiter in Minden/Westfalen und Coswig bei Dresden. Für seine Texte, die in zahlreichen Anthologien und Literaturzeitschriften sowie in mehreren Einzelpublikationen veröffentlicht wurden (zuletzt: Imaginauten. Ein Morbidarium in 21 Erzählungen. Free Pen Verlag, Bonn 2018 sowie fischmaeuler. schaumrelief. anagrammatische miniaturen. edition offenes feld, Dortmund 2021), erhielt er u. a. Auszeichnungen bei PostPoetry NRW (2014 und 2022), beim Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis (2017) und beim Lyrikpreis Meran (2021). Weitere Infos unter marcusneuert.jimdofree.com.