Das ehemalige Gastarbeiterkind, dem es dank seinem Talent und seiner Beharrlichkeit gelungen ist, seinen Herkunftskomplex zu überwinden und sich obendrein in der internationalen Kunstszene durchzusetzen, erfährt plötzlich, wie die Konturen seiner mühsam erschaffenen Identität brüchig werden und der Boden unter den Füßen zu schwanken beginnt: „Eine Erschöpfung hatte sich in mir breitgemacht und mich an meinen Ausgangspunkt zurückgebracht. Normsehnsüchte drangen in mein Leben ein, nach dem Schutz einer Beziehungsblase, nach Geborgenheit, dem Gefühl von Sicherheit […].“
Vor dem Hintergrund der unfreiwilligen Rückkehr nach Belgrad, welche den narrativen Rahmen von Zorn und Stille absteckt, wird mittels Rückblenden und wechselnder Erzählperspektiven die horizontale, geografische Bewegung in eine vertikale, historische Spurensuche umgemünzt. In separaten Abschnitten wird das Leben der Eltern, die dem patriarchalen Mief und ländlichen Stumpfsinn im ehemaligen Jugoslawien entkamen, erzählerisch entfaltet und somit auch die Figur der Billy Bana greifbarer. Von der Zwangsheirat der Mutter namens Azra, von ungewollten Schwangerschaften, Abtreibungen und häuslicher Gewalt, unerfüllten Träumen und dem mühseligen Fußfassen im Wiener Arbeitermilieu, wo sie zeitlebens eine Fremde bleibt, wird kühl, fast emotionslos berichtet. Das Dorf hatte die Mutter hinter sich gelassen, die Sehnsucht nach einer besseren Zukunft aber war geblieben. Das sprachliche Unvermögen, die ewigen Querelen mit Sima, ihrem Gatten, und die beiden Kinder, Jonas Neven und Biljana, welche die elterliche Vorstellung von Glück früh unterliefen, bieten nicht den Stoff für eine Erfolgsgeschichte, überzeugen aber als Porträt einer unverwüstlichen Persönlichkeit, der anders als ihrer Tochter die Emanzipation als Frau und Mensch nur bedingt gelingt.
Ähnliches lässt sich über Sima sagen, der sich dank gewisser männlicher Privilegien der ländlichen Enge seines serbischen Dorfes früher entziehen konnte, ohne je mit dem Land seiner Herkunft zu brechen, wie sich im Verlauf der Handlung zeigt. Als Azra und Biljana nämlich in Belgrad ankommen, um Simas Beerdigung abzuwickeln, erfahren sie von einem Notar, dass der Vater in der Stadt eine Wohnung besaß, in die er sich, gleichsam um seiner Wiener Existenz den Rücken zu kehren, sporadisch zurückzog. Auch sein beruflicher Aufstieg verlief im Gegensatz zu seiner Gattin etwas günstiger. Ohne formale Ausbildung avancierte er als städtischer Gärtner vom Hilfsarbeiter zum Partieführer und erhaschte in den von ihm betreuten Privatgärten einen flüchtigen Einblick in die ihm fremde Lebensform der urbanen Bourgeoisie. Sima, der schon als Jugendlicher gern las, schaffte es angesichts der schwierigen Ausgangsbedingungen, die vorgezeichneten Grenzen des Proletariats zu durchbrechen, hielt jedoch ungeachtet dieser subversiven Tendenz bis zuletzt an der reaktionären Utopie eines geeinten Jugoslawiens fest. Indem der Hobby-Fotograf seine alte Leica der Tochter schenkte und später ihre Karriere aufmerksam verfolgte, beweist er jenseits ideologischer und persönlicher Differenzen seinen Respekt vor ihrer radikal anderen Daseinsform und offenbart zugleich sein Entwicklungspotenzial als Figur.
Sandra Gugic setzt sich in diesem Migrationsroman mit der vielschichtigen Erfahrung von Fremdheit in einem multikulturellen Europa auseinander und betritt mit dieser Thematik keineswegs romaneskes Neuland. Gleichwohl schlägt diese alltäglich erscheinende Geschichte die Leserschaft in ihren Bann, ja fesselt sie und hält den Wunsch wach, durch die Oberfläche des Textes noch tiefer in die Charaktere der Protagonisten einzudringen, in denen auch wir uns als Wanderer zwischen den Generationen und Kulturen wiedererkennen.
Der Bruch, den Azra und Sima mit dem vormodernen Patriarchat ihrer Eltern als Akt der Emanzipation vollziehen, spiegelt sich in der vehementen Ablehnung ihres bornierten Konformismus durch die Kinder. Biljana macht sich das väterliche Steckenpferd der Fotografie zum Beruf, Jonas Neven hingegen entscheidet sich für keinen Weg und verschwindet unter mysteriösen Umständen. Die kulturelle und ethnische Entfremdung, die sich in der doppelten Staatsbürgerschaft und der lückenhaft gewordenen slawischen Erstsprache manifestiert, ist freilich beiden Generationen als Konstante eingeschrieben. Hinzu kommt der im Zuge des Jugoslawienkrieges heraufbeschworene Antagonismus von Serben und Kroaten, der die Konstitution des Ichs zumal bei Migranten zur schier unlösbaren Aufgabe macht. Dass die Autorin durch diese komplexe Gemengelage mit sicherer Hand führt und dabei Figuren schafft, die am Bitteren und Schweren, das ihnen die historischen und sozialen Umstände aufbürden, nicht zerbrechen, ist als literarisches Kalkül nicht hoch genug einzuschätzen, zeigt es uns doch, dass Fremdsein und Entwurzelung als Motor geglückten Lebens allemal taugen.