Herrschaft wird laut Sperbers Essay weniger durch den Tyrannen an der Spitze aufrechterhalten, sondern vielmehr durch unzählige „Untertanen, seine Opfer, die ihn zum Tyrannen gemacht haben“ (S. 16).
Der Tyrann ist dabei nur die gemachte Spitze des Berges. Am Anfang steht das Volk, abgestumpft zu einem gestaltlosen Hügel, der Gedankenfreiheit beraubt, der Apathie nahe. Sich den formenden Händen des Tyrannen zu übergeben, ist in dieser Entwicklung die „letzte autarke Entscheidung“.
Die bleibende Bedeutung dieser Studie würdigte auch die Manès-Sperber-Ausstellung im Jüdischen Museum Wien, die von 18. Jänner bis 10. März 2006 zu sehen war. Sperbers einhundertster Geburtstag am 12. Dezember 2005 bot Anlass für diese Präsentation seines Lebens und seiner Werke. Sperber, der 1905 in Zablotów/Galizien geboren wurde, übersiedelte 1916 mit seinen Eltern nach Wien, wo er bis 1927 lebte. Später wurde Paris zu einem zweiten Mittelpunkt seines Lebens. Allerdings ist Sperbers Essay 1937 bei einem Kurzaufenthalt in Wien entstanden.
In Sperbers Essay wird der Werdegang eines modellhaften Tyrannen analysiert, denn Sperber personifiziert den Tyrannen nicht, wenngleich sich implizite Bezüge sowohl auf Stalin als auch auf Hitler nicht verkennen lassen. Einerseits hat Sperber 1937 im Entstehungsjahr des Essays endgültig mit dem Kommunismus gebrochen, wie er im Vorwort darlegt, andererseits hat er teilweise die Konsequenzen des Faschismus im Zweiten Weltkrieg antizipiert. Die Anspielungen hätten Sperber zum Verhängnis werden können, wenn er sich nicht nach der Niederschrift des Essays in Wien wieder ins Exil nach Paris begeben hätte. Die erste Auflage des Essays von 1939 im Pariser Verlag Science et Littérature wurde später bis auf einige Exemplare von der Gestapo vernichtet – erst 1975 kam es im Europaverlag Wien zu einer Wiederauflage, wodurch sich zumindest die bleibende Bedeutung der Studie über die Entstehungshintergründe und Machtmechanismen der Tyrannis verdeutlichen ließ.
Der Werdegang eines Tyrannen wird ständig in Gegenüberstellung zu seinen Bezugspersonen aufgezeigt, denn das Bezugssystem eines Menschen versteht Sperber als „Achse des Bewusstseins“ (S. 29f.). Insofern ist Sperbers Darstellung der Tyrannis eine Umsetzung der Individualpsychologie Alfred Adlers, welche ihm – im Unterschied zu den Massenpsychologien von Gustav Le Bon und Sigmund Freud – den Versuch ermöglicht, „die Masse oder Menge selbst individualpsychologisch aufzugliedern“ (S. 17).
Innerhalb seines Beziehungsgeflechts ist der Tyrann nicht gleichermaßen Täter und Opfer, nach Sperber ließe sich dieser eher als Opfer seiner Selbst bezeichnen, denn seine Machtbegierde ist nur die Oberfläche, unter der jedoch ein von aggressiver Angst geplagter Mensch steckt. Die Auffassung, dass ein Tyrann oder ein Herrscher ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein habe, erfährt bei Sperber eine Umkehrung: Die Machtbegierde liegt in einem unaussprechbaren Maß von Selbstverachtung begründet. Der Tyrann ist unfähig, seine aggressive Angst anders zu kompensieren als durch den Willen zur Macht. Sperber wendet sich mit dieser Umkehrung explizit gegen Nietzsche, der „den Willen zur Macht von der Stärke“ (S. 26) ableitet, wobei er jedoch „den unlöslichen Zusammenhang zwischen der Schwäche und der Macht“ (S. 26) verkennt. Implizit spricht sich Sperber auch gegen jene Menschen aus, die dem Tyrannen im Glauben an seine vermeintliche Stärke verfallen. „Wer sich fallen lässt, bleibt schuld.“ Noch am Boden trägt der Gefallene die Schuld; solange er sie noch spürt, kann er wieder aufstehen. Nur mit der Last kann er sich wieder aufrichten, indem er die Schuld in Mut wendet, sich gegen die Tyrannis zu erheben.
Zu viele der Gefallenen begehen jedoch Selbstbetrug, indem sie ihre Schuld verkennen, bis diese zur Lüge und im Austausch ihre Unschuld zur Wahrheit wird. Wenn schon ein leiser Zweifel an der Idee des Tyrannen die eigene Hinrichtung zur Konsequenz haben kann, wer verwechselt in dem Fall nicht lieber die Wahrheit mit der Lüge? Die Entfremdung von der Wahrheit ist nicht so gewöhnungsbedürftig, wie sie anfangs dem Individuum erscheinen mag. Denn man „heuchelt nur, solange man noch so viel Kraft und Mut hat, die Wahrheit erkennen zu wollen. Wenn auch dieser Mut dahin ist, braucht man nicht mehr zu heucheln.“ (S. 81)
Der Tyrann behauptet, Verantwortung für die Umsetzung seiner Idee zu übernehmen – doch es ist eine Scheinentlastung, denn im Ungewissen behält das Volk die Verantwortung für das Zustandekommen der Tyrannis.
Den Willen zur Macht trägt jedes Individuum latent in sich; inwiefern sich dieser Wille umsetzt, ist einerseits vom Ausmaß seiner Angst abhängig, andererseits von der Wahl des Volks. Als die Tyrannis noch im Entstehen begriffen war, hatte das Volk noch die Macht, sie zu verhindern; mit der „letzten autarken Entscheidung“ für die Tyrannis bleiben dem Volk nur noch Relikte seiner anfänglichen Macht: Wenngleich manche Individuen dem Glauben verfallen bleiben, noch Teilhabende der Macht zu sein, sind sie nichts anderes als „die verhinderten Tyrannen des Alltags“ (S. 46).
Der anfängliche Lockruf des Tyrannen an einen „kleinen Mann von der Strasse“ (S. 53), ihm ein Stück Macht zu abzugeben, ist ein Versprechen, um ihn gefügig zu machen, bis er den Befehl des Tyrannen nicht mehr als solchen erkennt. Wie unberührt manch ein Mensch von dem Befehl bleibt, legt auch Elias Canetti in seinem philosophischen Werk Masse und Macht dar: Wenngleich von dem ausgeführten Befehl ein Stachel in dem Täter stecken bleibt, ist ihm dieser so fremd wie der schon erteilte Befehl. Der Stachel wird in dem Täter zu einem Fremdkörper, der ihm jegliche Verantwortung abnimmt.
Canettis Bild des Stachels bestätigt Sperber darin, dass der Täter keine Schuld mehr spürt, sobald er den Befehl leugnet. Spräche man ihn auf den Befehl an, empfände der Täter sich als Opfer – ohne etwas von dem Stachel wissen zu wollen. Der Stachel geht nicht zurück, stattdessen bildet sich nach jedem unbewusst befolgten Befehl ein neuer hinzu. Es bleibt nur die Hoffnung, dass dieser Mensch nicht so weit abgestumpft ist, um den Schmerz nicht mehr wahrzunehmen. Das Stechen bleibt, bis er es in Mut umwandelt, sich dem Befehl – und somit der Tyrannis – entgegenzustellen.
Der Tyrann ist süchtig nach einem „täglichen Beweis“ (S. 82) seiner Macht – schon wenn solch ein Beweis einmal nicht erfolgt, muss der Tyrann den Tag fürchten, an dem er die Macht verliert. Zuerst zieht sich der Tyrann „nicht von seiner Macht, sondern von den Entscheidungen“ (S. 83) über die Erhaltung der Tyrannis zurück. Wenn dem Tyrannen schließlich von mehreren Individuen die Macht entzogen wird, steht das Volk wieder am Anfang ohne Spitze. Indem das Volk seiner früheren Abstumpfung widersteht, leitet es auch den Bruch der Tyrannis ein.
Dass die Individuen den Mangel an der Spitze nutzen, um dem Willen zur Freiheit zu folgen und ihre Eigenständigkeit wieder zu festigen, ist gewiss eine Utopie. Wer sich für einen schweren Anfang etwas Optimismus behält, muss zwar „die Lächerlichkeit erkennen, die damit verbunden ist“ (S. 24); wer jedoch bewusst von dieser paradoxen Melange lebt, kann auch andere Individuen für den Glauben an ihr Selbstgewinnen.
Sperber schreibt 1974 im Vorwort zur Neuauflage des Essays: „Ich würde heute recht vieles anders ausdrücken als der Zweiunddreißigjährige, der ich damals gewesen bin. Trotzdem lasse ich in dieser neuen Auflage, was er geschrieben hat, unverändert. Die Leser von heute, insbesondere die jungen unter ihnen, werden vielleicht mit Staunen feststellen, wie Wesen und Wüten der totalitären Diktaturen im Jahre 1937 zwar nicht in allen Einzelheiten bekannt, doch durchaus erratbar waren.“