Johannes Epple skizziert in seinem Erstlingsroman Zwischen den Wänden zunächst Momentaufnahmen, Schnappschüsse aus dem Alltag, Szenen, die sich später teils als symbolhaft, teils als schicksalsträchtig für ihre Protagonisten entpuppen. Und dann unterwirft er diese Schnappschüsse einer gründlichen Bildbearbeitung. Immer mehr Details werden sichtbar, immer größer und bewegter wird der Ausschnitt, der zu sehen ist, und auf einmal zeigen sich Berührungspunkte, Schnittstellen, gemeinsame Bildmotive aus unterschiedlichen Perspektiven. Das, was zu Beginn aussieht wie ein einzelner Handlungsstrang, wird erkennbar als Teil eines komplexeren Geflechts. Die Kamera schwenkt. Die Bilder sind sehr scharf. Aber voller Schatten.
Johannes Epple, Jahrgang 1982 und Absolvent eines Philosophiestudiums in Wien, erzählt detailreich, lebendig und tiefgründig, entwirft ein präzises, gut durchdachtes Netzwerk mit kunstvollen Überschneidungen. Er erzählt ruhig und sehr präzise. Ein kühler Blick Marke Jonathan Franzen, der Erzähler verkneift sich die Anteilnahme. Und durch die kleinen Details schimmern die großen Fragen des Daseins.
Epple scheint die Figuren unbeteiligt dabei zu beobachten, wie sie ihren Platz im System Leben und die Nähe anderer suchen, selten finden und schnell wieder verlieren. Helga muss das Begräbnis ihres Mannes organisieren, der nach langem, schwerem Diabetesleiden im Krankenhaus gestorben ist. Statt offensichtlich zu trauern, stöbert sie in seiner und ihrer Vergangenheit, versucht Bruchstücke längst vergangener Jahre und einer (vermeintlichen?) Affäre zusammenzutragen und füllt die Lücken mit ihrer Phantasie. Sie erfindet sich ihren verstorbenen Mann neu.
Ein Leben lässt sich nicht restlos erzählen. Man kann nie alles sagen, was wichtig ist. Jeder Blickwinkel hält Anderes fest. In Johannes Epples Roman geht es nicht zuletzt um das Zusammenspiel dieser Blickwinkel, und wohl auch um das, was im toten Winkel liegt. Um die Lücken im Erzählten: Eine Herausforderung. Konrads Mutter begegnete dieser mit ihrem „totalen Tagebuch“, dem „Versuch ein Leben aufzuschreiben“. Dieser Lebensaufgabe hat sie sich so intensiv und konsequent gewidmet, dass daneben kaum mehr Zeit zum Leben blieb und schon gar keine für ihren Sohn. Dieser wiederum weiß noch nicht wirklich, wo es hingehen soll mit ihm, er weiß nur, dass er nicht „eine Wiederholung einer Wiederholung einer Wiederholung“ sein will.
Leidvoll sieht auch Bela die Wiederholung. Alles wollte er anders machen als sein Vater. Ganz anders wollte er seinen Sohn erziehen. Das Ergebnis ist aber doch offenbar wieder das gleiche. Vater und Sohn finden keinen Draht zueinander, können nicht miteinander reden. Der Junge schwänzt die Schule und verkriecht sich in einer selbst gebauten Hütte in einem nahen Wäldchen wie in einem Schneckenhaus. Und wie schon zwischen Vater und Großvater das einst ehrwürdige Kaffeehaus stehen auch zwischen ihnen die Aufgaben, die mit dem Lokal des Vaters einhergehen, einem nunmehr wenig einladenden Wettcafé.
Keine der Figuren ist zu beneiden. Sie alle kämpfen mit sich und ihren Problemen. Problemen mit sich sebst und jenen Menschen, die ihnen nahestehen oder von denen sie in irgendeiner Form abhängig sind. Ihre Träume, ihre Wünsche drehen sich um Anerkennung durch andere. Aber auch um die Emanzipation von den Vorstellungen anderer.
Und das Innerste, Eigenste wird vor neugierigen Blicken versteckt.
Trotzdem schimmert schließlich Hoffnung durch die Schatten der Einsamkeit. Die Figuren rücken ein wenig zusammen. Es gibt Annäherungen und Gemeinsamkeiten. Am Ende stehen programmatisch Musik und Lachen, als würde das Leben mit einem Augenzwinkern zu verstehen geben, dass es weitergeht, ohne Rücksicht auf Verluste. Und dass nicht immer alles mühsam sein muss.
Wo es Schatten gibt, gibt es auch Licht.
Ein schönes Ende – für ein ernstes, schönes Buch.